Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
hatte seine Geige in den Geigenkasten gelegt, der auf dem Rand des Grabes lag, und eine Flasche aufgehoben, die er ebenfalls dort stehen hatte. Im Sommernachtslicht gab es keinen Zweifel, dass es eine kleine Flasche Klarer war. Nachdem er sie an den Mund gesetzt hatte, drehte er sich um und blickte über den Friedhof hin. Ich glaube, er wollte das Wasser sehen. Aber dort saß ich.
»Was zum Teufel machst du hier, hab ich gefragt!«
»Zuhören«, war das Einzige, was ich antworten konnte.
Da lehnte er die Flasche wieder an einen Kranz und nahm die Geige aus dem Kasten. Er machte eine eindeutige Geste mit dem Bogen. »Hau ab«, sagte er. »Das ist nicht für deine Ohren bestimmt.«
»Ach nein«, erwiderte ich. »Für wessen dann?«
»Verschwinde«, sagte er. »Und zwar ein bisschen plötzlich.«
Musse sprang von meinem Arm herunter, stellte sich hin und bellte ihn an. Er kehrte uns den Rücken zu und begann seine Geige zu stimmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Hund an die Leine zu nehmen und zu gehen. Seinem Blickfeld entschwunden, ging ich nicht auf dem Weg hinaus, den ich gekommen war, sondern hinter die kleine weiße Kapelle und setzte mich auf eine niedrige steinerne Grabeinfassung. Hier konnte er mich nicht sehen.
Aber er spielte nicht mehr, er schien ernsthaft gestört worden zu sein. Es war die Einsamkeit, die er suchte, das Nachtlicht und das nahezu unhörbare Gemurmel des Siljanwassers an den Ufersteinen, während er spielte. Keine Zuhörer. Als ich begriff, dass er zusammenpackte, und nach einer Weile seine Schritte im Kies hörte, stand ich auf.
Lächerlicherweise kamen wir gleichzeitig auf dem Parkplatz an, allerdings von zwei verschiedenen Kieswegen her, die in der Nacht knirschten. Musse bellte jetzt seine untersetzte Gestalt neben einem Kastenwagen an, einem ramponierten Isuzu.
Dort stand er nun, trank aus der Flasche und lachte über Musse. »Ist ja ganz schön bös, der Hund!«
»Eigentlich ist sie nicht böse«, sagte ich. »Aber es ist Nacht, und sie hat dich da oben gehört. Du hast dich ja nicht gerade freundlich angehört.«
»Ojojojoj, mit so einem kleinen Hundemädchen muss man natürlich turteln. Komm mal her!«
Musse knurrte ihn jetzt an und legte die Ohren zurück.
Er lachte. »Was zum Teufel macht ihr zwei eigentlich hier?«, fragte er. »Auf dem Kirchhof. Mitten in der Nacht.«
»Und du?«
Er reichte mir die Flasche, und ich trank.
»Spielen«, erklärte er.
»Ja, das habe ich gehört. Du spielst gut.«
»Ich spiele für einen Mann, der besser war als ich. Er ist vor elf Tagen gestorben.«
Hat er das damals gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht. Nach und nach erfuhr ich ja alles: wie man ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er auf der Beerdigung nicht erwünscht sei, dass die religiöse Verwandtschaft des alten Spielmanns diese Musik nicht mochte und außerdem glaubte, Rusken könne nicht nüchtern bleiben. Er hatte aber dem Mann, von dem er so viel gelernt hatte, obwohl er aus einem der Rättvikkirchspiele kam, huldigen wollen. Und er hatte den Alten sehr geliebt.
Rusken. Diesen Namen verwendete er für sich selbst. Er spielte aber nicht nur Geige wie Chuck Berry Gitarre, sondern war auch ein Mann, der sich das Wort lieben zu verwenden traute.
Seit ich schreibe, muss ich strenge Regeln beachten und jene Linie einhalten, die Lillemor gepredigt hat. Ich musste Passagen ummodeln und umstellen, ganze Teile (die sie Kapitel nennt) kürzen und hinzufügen und in den Texten herumfuhrwerken, ganz nach ihrer – ja, man nennt es wohl Logik. Ich habe ihr erklärt, dass das Leben nicht logisch ist, sich nicht auf einer Linie voranbewegt und die Erinnerungen nicht strukturiert sind. Wenn unsere Eindrücke in der Speicherbank landen, werden sie nicht in irgendeiner Ordnung abgelegt. Jedenfalls in keiner, die wir erkennen können. Was immer das Gedächtnis sein mag, es ist jedenfalls nicht auf Befehl zugänglich. Es ist eine Nachtnelke, die Dämmerlicht braucht, um sich zu öffnen, und schlägt seine Verschlossenheit erst auf, wenn die Vernunft in Dämmer sinkt.
Die eigentümliche, vermutlich assoziative Ordnung darin (da unten?) hat absolut nichts mit einer rationalen Struktur zu tun. Lillemor hat aber darauf beharrt, dass Romane eine Struktur haben müssen, auch wenn das Leben keine hat. Nicht alle Romane hätten eine, hielt ich dagegen. Es gebe welche, die nicht mal eine erkennbare Chronologie besäßen. Ich habe Romane erwähnt wie Der Herbst des Patriarchen
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