Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
von der Schale befreiten Hummerscheren lagen wie eigentümliche blassrosa Hände auf der Gratinsauce. Lillemor hatte den Eindruck, als griffen sie nach ihr, denn sie spürte den Weißwein allmählich und dachte daran, dass nichts preisgegeben werden dürfe, wenn sie auf den Nobelpreis zu sprechen kämen. Sie hatten eben erst ihre Gutachten über den von ihnen befürworteten Nobelkandidaten abgegeben. Beide hatten etwas über einen griechischen Lyriker geschrieben, von dem Lillemor noch nie etwas gehört hatte. Als der alte Sekretär meinte, die massenmediokre Gesellschaft werde Giannis Ritsos fordern, warf Lillemor rasch ein, politisch sei dies natürlich gut möglich, da er immerhin einen anderen Hintergrund habe als Konstantinos Kavafis. Die Herren blickten fragend drein.
Dieser Name war wie eine Schwalbe vorbeigeflogen, und was sein Großvater väterlicherseits (oder war es der mütterlicherseits?) getrieben hatte, war ihr seltsamerweise mit demselben Gedächtnisblitz gekommen. Sie hatte sich immer auf diese Blitze verlassen. Auch schon in den Examinatorien, wo schnelle Repliken und Auffassungsgabe mit professoralem Beifall belohnt wurden.
Ein Schauder der Lust und Spannung durchrieselte sie, und sie erkannte, dass sie besser hierherpasste als Babba. Die hätte gesagt, sie habe keine Ahnung, um was für Tattergreise es sich bei irgendwelchen griechischen Dichtern handelte. Oder etwas in der Art.
Woher hatte sie das bloß genommen? Sie wusste über diesen Dichter ja auch nichts, doch in ihrem Gehirn klebte ein Etikett auf dem Namen Kavafis. Ihr Gehirn war aktiv, es flatterte und wirbelte und perlte darin. Sie liebte eine Situation wie diese, und sie erkannte, dass sie sich etliche Jahre tödlich gelangweilt hatte. Das Leben war wie ein Gang durch Lehm gewesen. Jetzt aber flog sie.
Der alte Sekretär Emeritus, der ihr hatte zuprosten wollen, saß, die blauschwarze Brille auf sie gerichtet, mit erhobenem Glas da. Den Kopf hatte er wie eine Schildkröte vorgereckt.
»Der Enkel des Diamantenhändlers«, sagte sie lächelnd.
Dass sie das herausgebracht hatte! Dass ihr das zugeflogen war!
Präzedenzien Galimathias
Als Lillemor aus Stockholm zurückkehrte, kam sie zum Lostgården herauf, setzte sich in einen der unbequemen Lehnsessel und fragte: »Warum tust du das?«
Ich arbeitete und hatte überall auf dem Klapptisch Zettel und Blockblätter verteilt. Eigentlich wollte ich nicht gestört werden, doch ich vermutete, dass sie schier platzte vor lauter Eindrücken in der Akademie und erzählen wollte. Stattdessen aber kam nun ganz unvermittelt diese Frage.
»Du meinst, warum ich schreibe?«
»Nein, warum gibst du vor, dass ich die Bücher schreibe? Oder besser gesagt, warum geben wir das vor?«
»Ist jetzt wieder die Stunde der Wahrheit angesagt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte es nur wissen.«
»Und das fragst du nach – wie viele sind es jetzt? – fast dreißig Jahren?«
»Zwanzig.«
»Warum um alles in der Welt fragst du danach?«
»Ich möchte es wissen «, sagte sie. »Ich kann nicht mit einer Lüge leben.«
»Natürlich kannst du das, du hast es zwanzig Jahre lang bewiesen. Fünfundzwanzig, wenn wir von der Luciageschichte an rechnen. Und Lüge? Ist es eine Lüge?«
»Was denn sonst?«
»Nicht doch. Wir brauchen einander, damit die Bücher geschrieben werden. Das heißt nicht, dass wir mit einer Lüge leben.«
»Was denn sonst!«
»Dass etwas verborgen ist, heißt nicht unbedingt, dass es unwahr oder falsch ist«, sagte ich. »Warum sollte das, was du eine Lüge nennst, zu einer Wahrheit werden, wenn es an den Tag kommt?«
Darauf konnte sie natürlich nicht antworten.
»Weißt du noch, wie du zu den Psychologen gerannt bist?«, fragte ich. »Die mit den dreckigen Strümpfen. Die waren doch der Meinung, Tompa habe über Sune und dich die Wahrheit aufgedeckt: Der Junge sei misshandelt und Psychoterror ausgesetzt worden.«
»O Gott«, sagte sie. »Komm mir nicht damit. Ich bin froh, dass wir das hinter uns haben.«
»Es war nun wirklich keine Wahrheit«, sagte ich. »Es war reine Lüge, und das wusstet ihr. Trotzdem musstet ihr wegziehen. Oder? Nachdem sie Tompas sogenannte Wahrheit aufgedeckt hatten, konntet ihr nicht mehr dort wohnen bleiben. Die Heimvolkshochschule konnte sich keinen Rektor leisten, von dem es hieß, er habe sein eigenes Kind misshandelt.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Wird denn etwas dadurch wahr, dass es öffentlich wird? Muss unser
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