Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
Bibliothek. Es sind fast alle da. Sie erheben sich und begrüßen sie, allerdings nicht mit diesem neumodischen Wangenküsschengeschmatz, sondern stilvoll. Die Alten haben es den Jungen beigebracht. Hier breitet sich über alle Dinge, Bewegungen und Stimmen die Vergangenheit. Sie ist wie ein leichter Nebel, macht das Heute weich und umfängt sie mit der Verheißung ungestörter Ewigkeit.
Zeitschriften rascheln, und leise, freundliche Stimmen sind zu hören. Sie weiß, dass es im Laufe der Jahre hier Groll gegeben hat. Aber nicht in diesem Augenblick. Hier mögen sie mich, denkt sie und kommt sich wie ein kleiner, geliebter Hund vor. Ein alter Hund natürlich.
Langsam ziehen sie in den Versammlungsraum ein. Lillemor bleibt ein wenig zurück, denn sie muss noch ihr Hörgerät einschalten, sodass sie das bekannte kleine Signal erhält. Als sie allein über die silbergrauen Scheuerdielen im Börsensaal geht, denkt sie daran, wie sie das erste Mal hier war, an die Angst, die rasch verflog, an die Aufregung, die wie Kohlensäure in ihren Adern prickelte. Hier ist man ihr stets mit Liebenswürdigkeit begegnet. Sie hatte zwar anfangs geargwöhnt, dass eine ehrgeizige Schülerin bei einem Praktikum in der Nobelbibliothek auf ähnliche Art behandelt worden wäre. Aber hier herrscht das hierarchische Prinzip der Seniorität, sodass sie mit jedem Jahr eine Rangstufe nach oben gestiegen ist. Auch den Greisen wird Achtung zuteil, denn die Atmosphäre ist schonungsvoll. Man macht einander Komplimente für das, was zuletzt in Schriftform erschienen ist oder an dem Rednerpult in Gold und Weiß drüben im Börsensaal gesagt wurde. Draußen in nasser Kälte, in Wind, Neid und Geschwätz kann man eine pottmoderne Blenderin genannt werden. Hier drinnen ist man ein Mensch mit Wert und Würde.
Vor den hohen Fenstern steht das graue Herbstlicht, das sich, mit Rußpigmenten verwischt, zur Abenddämmerung verdichtet. Die Häuserzeilen im Trångsund und am Stortorget gleichen Kulissen eines alten Theaters. Außerhalb davon gibt es keine Welt mehr. Und wenn, dann nur in weiter Ferne.
Sie geht zu dem weißen, mit blauem Samt bezogenen Lehnstuhl, der ihr Platz ist. Nicht dass dies jemand gesagt hätte, auch nicht damals, als sie zum ersten Mal hier war. Damals saß sie weit unten am Tisch, heute sitzt sie in der Nähe des Sekretärs. Das Alter hat sie allmählich nach oben befördert. Sie erinnert sich gern an den Reichsmarschall und Ritter des blauen Seraphinenbandes, einen munteren und unkomplizierten Herrn. Er saß ganz unten und rückte nie weiter. Es gibt subtile Arten, sich in einer Hierarchie zu behaupten. Eine davon ist die, sich hors catégorie zu stellen. Lillemor flirtete von Anfang an mit dem Herrn da unten.
Der Direktor eröffnet jetzt mit überaus leichtem Hammerschlag die Versammlung. Die Tagesordnung umfasst viele Punkte, und der Preis kommt ganz zuletzt. Der Zustand der Immobilien (Dachrinnen, Abflüsse) wird nicht weiter besprochen, wie es bei der ersten Versammlung, an der sie teilgenommen hat, der Fall war. Zur Sprache kommt lediglich der Aufzug in einem der Häuser der Akademie. Ein paar Gesuche sollen bekannt gegeben und dann abgewiesen werden. Über einen langwierigen Streit mit dem Oberverwaltungsgericht wegen einer Permutation in einem der Preisfonds ist Bericht zu erstatten. Eine eventuelle Neueinstellung in der Bibliothek ist anzukündigen. Man wird sich durch die sicheren Alltäglichkeiten zur Deklaration über den Nobelpreisträger des Jahres vorarbeiten, um einander davon zu überzeugen, dass diese Akademie nicht der Modernitätshetze und dem Schlagzeilendenken erliegt.
Jetzt erhält der Sekretär das Wort, und er verliest die Aufzeichnung. So wird das Protokoll genannt und immer genannt werden. Wie so oft verliert Lillemor während dieser Verlesung den Faden und versinkt in einen außerweltlichen Dämmerschlaf. Sie ist damit nicht allein. In dem fahlen Licht, das die Kristalllüster verbreiten, sehen mehrere wie schlafende Robben auf einer Eisscholle aus. Hin und wieder schauen sie mit glänzenden oder tränenden Augen auf den gerade Sprechenden, den Sekretär oder den Direktor. Dann wiegen sie sich wieder in ihren Nachmittagsdämmerschlaf. Lillemor muss daran denken, dass große Teile von Gamla Stan, einschließlich des Reichstagsgebäudes, auf Pfählen im Schlamm stehen. Wie können wir in einem derart schwankenden Dasein an Ewigkeit glauben? Dass die immer gleiche weiße Tischplatte den immer gleichen
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