Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
Möglicherweise bosselte er ja an seiner Dissertation, in der es um development economics ging. Sie glaubte aber schon damals, dass er Patiencen legte, wenn er nachts aufblieb. Eine Zusammenkunft des Juvenalordens ließ er nie aus. Einmal hatte er am Samstagnachmittag um halb zwei das Haus verlassen und war am Sonntagmorgen um vier Uhr zurückgekehrt, wobei sein kurzer grüner Umhang etwas schmuddlig war. Den hatte Lillemor genäht, als er einen Grad nach oben geklettert war. Er schaffte es noch, sich den Frack mit den falschen Medaillen auszuziehen, und sank in einen schweren Schlaf. Ich war wohl sehr wütend, denkt sie, denn ich erinnere mich, dass ich Babba anrief und sagte, wir könnten zur Kate hinausfahren und an unserer Intrige arbeiten. Roffe wolle bestimmt kein Abendessen haben.
»Kotzt er?«, fragte Babba, doch sie gab ihr keine Antwort.
Molluske Vichywasser
Ich bin Eidetikerin, und die Vergangenheit liegt in meinem Gedächtnis wie unsortierte Fotos in einem Pappkarton. Ganze Berge davon. Sie werden entwickelt und verblassen. Solange ich sie aber sehe, sind sie sehr deutlich. Schwer zu sagen, aus welchem Jahr sie stammen oder ob sie überhaupt wirklich wahr sind. Das Gedächtnis ist kein Registrator, es dichtet und träumt. In dem Fluss, dessen Teil wir sind, tappen wir nach Jahreszahlen und Namen von Orten, um sie an uns und unserem Schicksal festzumachen.
Ein Großteil meines Lebens, unseres gemeinsamen Lebens, steckt auch in den kleinen Kästen mit den Karteikarten. Es steht selten ein Datum darauf, aber ein Gespräch im Herbst 1961 kann ich nachträglich datieren, denn es ging um unser zweites Buch. Irgendwas an diesem Buch nagte an uns, noch bevor es zustande gekommen war. Ich schrieb ohne Zuversicht, während die Soldateska im Kongo plünderte und vergewaltigte und der schöne John F. Kennedy zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei nominiert wurde. Ständig dachte ich an meine Leute zu Hause. Ich brauchte ihnen das Buch ja nicht zu geben, so wie das erste. Sie wussten, wer Lillemor Troj war, und als mein Vater es gelesen hatte, fragte er: »Führt sie so ein merkwürdiges Leben?«
Es war wohl das erste Mal, dass ich ahnte, wie Menschen Bücher lesen, wenn sie die Autorin kennen. Oder sogar auch dann, wenn sie sie nicht kennen.
Als ich unser zweites Buch schrieb, sah ich oft meinen Vater vor mir. Ich dachte daran, wie er von der Arbeit nach Hause kam und das Vorderrad in den Fahrradständer schob. Ich hörte seine Schritte auf der Vortreppe und wie er sich im Windfang die Schuhe mit den Stahlkappen auszog. Er schlurfte ins Haus, und das Linoleum flüsterte von ihm. Im Licht der Leuchtstoffröhre lag das gelb karierte Wachstuch und offenbarte dicht an dicht Risse.
Ich weiß nicht mehr, welcher Tag es war. Ob es der Tag war, an dem sie gepökelten Speck mit Roten Beten und Pellkartoffeln aßen. Oder der Kloßtag. Oder der ewige Freitag des Herings. Meine Mutter werkelte herum. Sie war die Herdwärme in Person. Nach dem Essen wischte sie das Wachstuch ab, und mein Vater holte die Bücher. Das Radio lief ununterbrochen. Gegen neun Uhr kochte sie Tee. Viele Jahre und zahllose Tage mit Hering, Klößen, Speck, Büchern und Tee. Und im Herbst 1961 also dann dieses Buch.
Allerdings waren jetzt die Sechzigerjahre, und meine Eltern setzten sich nun in die Stube, um auf die gewölbte Glasscheibe in dem Kasten zu schauen, der ihr erstes Fernsehgerät war. In der Küche muss es kälter geworden sein, seit sie einen Elektroherd hatten, folglich würde mein Vater unser zweites Buch wohl im Wohnzimmer lesen. Bestimmt hatte er sich gefragt, woher Lillemor Troj diese Menschen kannte, von denen es handelte. Reiche und herrschsüchtige Leute – und natürlich mörderisch.
Der Polizeikommissar, den wir uns bereits im ersten Buch ausgedacht hatten, war nun an der Nordsee, die lange, traurige Wellen an den Strand warf. Es gab viel Nebel und äußerst verwickelte Verwandtschaftsverhältnisse. Der Kommissar glich immer mehr Lillemors erster Liebe in Uppsala, offenbar ein schöner Mann. Sie erwähnte ihn in diesem Sommer zum ersten Mal.
Und dann fragte sie mich: »Glaubst du, ich werde in acht, zehn Jahren mir gegenüber das gleiche Unbehagen empfinden wie jetzt, wenn ich an diese Achtzehnjährige denke, die damals nach Uppsala kam?«
Ich sagte, dass ich mich daran erinnerte, wie sie in ihrem ersten Semester war. Sie hatte eine schwarze Hemdbluse getragen, eine schwarze, eng anliegende lange Hose
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