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Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Titel: Schwindlerinnen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Ekman
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drüberzustülpen. Der Reißverschluss ließ sich nicht zuziehen, und als sie ordentlich zerrte, ging er kaputt. Meine Mutter fluchte und pfefferte die Überschuhe mit der abgewetzten Kaninchenfellverbrämung in den Flur. Die ganze Prozedur hatte Zeit gebraucht, mein Vater sagte »Weiber« und ließ mit diesem Wort deutlich Dampf ab.
    Von Babelsberg rannten wir die Straße hinunter, wo in den Grasbüscheln, die über den steilen Hang hingen, Blausterne nickten. Ein Schienenbus zischte und ratterte zu unserer Linken und ertränkte für einen Moment die Blasmusik, die wir schon zu hören meinten. Als die Bahn ausgerattert hatte, war klar, dass die Internationale gespielt wurde; der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, und wir würden ordentlich verspätet dazustoßen. Wir stolperten ihm hinterher und mischten uns in der Stationsgatan unter die Marschierenden.
    Mein Vater sagte: »Das ist ja richtig gut in diesem Jahr. Junge Menschen. Da wird man noch Augen machen!«
    Ich begriff, dass er die Zukunft der Arbeiterbewegung aufleuchten sah, weil ringsherum Strickmützen, Jeans und Anoraks zu sehen waren und nichts von dem properen Braungrau, in das die Generation meiner Eltern gekleidet war: mein Vater in kurzem Mantel und klein kariertem Hut mit ganz schmaler Krempe, meine Mutter in ihrem grauen Mantel mit Synthetikfellkragen und einem blauen Filzhut. Der sah aus wie diese Minen, die in meiner Kindheit im Meer trieben. Ich war gegen den Demonstrationszug argwöhnisch geworden, weil es dort gar zu viele Inkamützen und Halsbänder mit großen Holzperlen gab.
    Da sagte mein Vater: »Was, zum Kuckuck, ist denn das?«
    Er zeigte auf ein Schild, das vor uns wippte.
    STOPPT DIE AUSROTTUNG
    DER AMAZONASINDIANER
    »Laufen wir etwa bei den Kommunisten mit?«, knurrte er. Seit Karl Kilboms Zeiten bekam er bei dem Wort Kommunist Zuckungen. Der Zug bog jetzt ab, sodass er die Spitze sehen konnte, als die Leute in die Querstraße marschierten.
    »Das sind doch, zum Kuckuck noch mal, nicht die Kramforsbläser«, sagte er mit lauter Stimme, um gehört zu werden. »Ich kenne jeden in dem Orchester.«
    »Das ist das Bollsta-Väja Musikkorps«, erklärte ein bemütztes Bürschchen, das neben uns lief. »Ihr seid bei der Einheit-Solidarität. Sucht ihr den Zug der Nationalen Befreiungsfront?«
    Letzteres sagte er natürlich boshaft, und mein Vater sprang prompt darauf an. Ich befürchtete, dass die Sache ausartete, packte ihn am Arm und zog ihn auf den Gehsteig. Es dauerte ein Weilchen, bis meine Mutter uns vermisste, und genau in dem Moment, als sie über die Regenpfützen gehüpft kam, hörten wir ein anderes Orchester Befreit den Süden blasen und dann die widerhallenden Rufe:
    »Ho, Ho, Ho Chi Minh! Ho, Ho, Ho Chi Minh! Alle Macht dem Vietcong!!!«
    In diesem Zug waren die Leute noch jünger. Ein kleiner Junge saß auf den Schultern seines Vaters und rief unermüdlich: »Alle machen sich davon! Alle machen sich davon!«
    »Meine Güte«, sagte mein Vater. »Jetzt indoktrinieren sie schon die Kinder.«
    Ich versuchte ihn zu beruhigen, denn seine Gesichtsfarbe verhieß nichts Gutes. Wir fanden nirgends den sozialdemokratischen Zug, und ich schlug vor, in Mutters alte Konditorei zu gehen. Aber sie sagte, die sei heruntergekommen, und so gingen wir nach Hause und aßen zum Kaffee den Rührkuchen vom Vortag. Er war mit Rosinen.
    »Meine Güte, was für Zeiten!«, sagte mein Vater.
    Die kleine Stadt Verrières ist wohl eine der hübschesten in der Franche-Comté. Das schrieb Henri Stendhal; er begann mit diesem Satz sein ganzes Romanwerk Rot und Schwarz . Seine Stadt liegt am Fuß des Juras, und oberhalb der weißen Häuser mit den spitzen roten Ziegeldächern stehen Kastanienhaine, und der Fluss Doubs strömt lebhaft unterhalb der Festungsmauern dahin. Genau wie bei der Stadt meiner Kindheit gründete der Wohlstand Verrières’ auf der Sägewerksindustrie. Eigentlich sollte ich Kramfors als die hübscheste kleine Stadt Ångermanlands oder warum nicht gleich ganz Schwedens beschreiben können. Keine andere Gemeinde hat eine so ausgesuchte Lage wie sie, die dort an der Mündungsbucht des Ångermanälven, umkränzt von waldigen Bergen, bis zu den roten Granitklippen der Höga Kusten reicht. Ihre Geschichte ist sicherlich ebenso lang und schön wie die von Stendhals Verrières, denn die Sägen arbeiteten hier schon in den 1740er-Jahren, und bereits im 12. Jahrhundert, als das Stenkil’sche Geschlecht unsere Könige stellte, gab es die

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