Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
Herausgekommen war ein Manuskript zu einem Heimatstück über einen Sägewerkstreik in den 1870ern. Es gab genügend Sägewerke, in denen es sich aufführen ließ, denn viele Orte an der Küste waren jetzt verwaist, und die kleinen Wohnhäuser, die kaum ihr Bauholz wert waren, standen leer. Ich las Lillemors Opus und sagte, wie es war, und sie regte sich gewaltig auf.
Sie konnte nur schwer begreifen, dass sie eine kühne Geschichtsklitterung zusammengeschrieben hatte. Die Frauen in ihrem Stück waren stark und trieben die Männer zum Streik an. Ich sagte ihr, wie es wohl tatsächlich gewesen war: Die Frauen waren vor Schreck wie gelähmt und wussten nicht, woher sie für ihre Kinder etwas zu essen nehmen sollten, wenn die Männer keine Arbeit hatten. Die Stärke der Frauen lag darin, für die Kinder Essen zu beschaffen und das Heim sauber zu halten.
Das Gespräch artete in ein wüstes Gekeife aus, und ich erinnere mich nur vage daran. Aber ich nannte sie wohl wie Lars Ahlins Romanfigur »Letzte Erkenntnis«. Waren es keine Biozide, so war es die ausgebeutete Arbeiterklasse oder die Frauenbewegung oder der Krieg der USA oder irgendetwas anderes, was keine Wurzeln in ihr hatte.
»Wurzeln? Was sind denn Wurzeln?«, sagte sie.
»Wurzeln sind etwas, was schreit, wenn du sie herausziehst«, erklärte ich. »Aber du bist ja innerlich leer und hast statt Augen Glaskugeln im Kopf.«
Das ging natürlich zu weit. Kein Wunder, dass sie sich in ihren R4 setzte und losbrauste, dass der Schneematsch in graugelben Fontänen um die Reifen spritzte. Ante sah vom Fenster aus zu und drehte sich dann zu mir um, als erwartete er eine Erklärung. Er bekam aber keine, denn derlei war ich ihm nicht schuldig. Wir waren Freunde und hatten es gut miteinander. Wohlig hieß das Wort, das er dafür benutzte und das gut zu seiner ruhigen, genussvollen Sexualität passte.
Lillemor fuhr also los und kam drei Monate lang nicht wieder. Ich landete im selben Zustand wie damals, als sie aus Uppsala verschwunden war und ich mit den Plastiktüten dasaß und vorsichtig in den Kleidern kramte, die sie hatte loswerden wollen. Ich lag nachts wach und stellte mir vor: Jetzt hat sie mit Sune eine Nacht der Wahrheit. Jetzt ist alles aus.
Kein Schmerz, kaum eine Qual,
aber recht viel Verlegenheit. Erinnerungen scheinen vor allem akkumulierte Peinlichkeiten zu sein. Lillemor ist jedenfalls jetzt dahintergekommen, wie sie ihnen den Ekel entziehen kann: Sie wird Babbas Beschreibungen zuvorkommen. Sie ahnt, was kommen wird, kennt die Chronologie, und ihr wird bereits vom Geruch etwas übel. Ich habe jedoch ein Recht auf meine eigene Wahrheit, denkt sie trotzig.
Der Gedanke daran, wie viele Wahrheiten es allein in ihrem Bekanntenkreis gibt, von der Welt als Ganzer erst gar nicht zu reden, macht sie gleich wieder mutlos. Was soll man denn mit seiner Wahrheit, wenn sie niemand anderen überzeugt?
Dann kommt sie darauf. Man schreibt einen Roman. Man lockt mit der Suggestion einer Geschichte. Komm mit. Lebe dich ein. Nimm wahr.
Jetzt nimmt sie jenen Geruch ohne literarische Suggestion wahr. Sie sieht den Jungen im Sessel bei der Stereoanlage. Sie war der Meinung, er sei tief in seine Musik versunken.
Wenn er allein war, setzte er nie Kopfhörer auf, und kam sie dann nach Hause, schien das Rektorshaus schier einzustürzen von der Musik, die sich wie donnernde Fernlaster im Verein mit Schneidbrennern und dröhnenden Eisenhämmern anhörte. In der Küche fiel ihr auf, dass sie gar nichts gehört hatte, als sie nach Hause kam. Es war absolut still gewesen. Und dann dieser chemische Geruch. Sie wollte gerade Teewasser aufsetzen, blieb aber an der Spüle stehen und überlegte, was für ein Geruch das war. Aceton? Lackierte er sich jetzt die Nägel schwarz? Seine Musik war von einer Aura von Merkwürdigkeiten umgeben. Er trug abgerissene silberfarbene Plateauschuhe, und eines Nachmittags war auf seinem Ärmel ein Hakenkreuzemblem aufgenäht, als er heimkam. Sune wurde natürlich rasend.
Lillemor sagte: »Er versteht das nicht, er versteht das nicht!«
Doch Sune wollte unbedingt wissen, warum er dieses Hakenkreuz trage.
»Aus Jux«, hatte Tomas geantwortet.
Sie ging wieder ins Wohnzimmer und betrachtete ihn. Ein Kind. Er war zwar schon fünfzehn, doch wenn er schlief, sah man, dass er noch ein Kind war. Das Kind, das sie gewissermaßen bekommen hatte. Sabbath Bloody Sabbath stand auf dem Plattencover, das vor dem Sessel lag. Er hatte ein kleines Stück Stoff vor dem
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