Schwingen des Vergessens
seufzte sie und ließ eilig das Tagebuch in seinem Versteck verschwinden. Und tatsächlich! Als sie sich einloggte, ein paar Sekunden danach, genauer gesagt, erschien wieder die leuchtende Schrift: „Eine neue Nachricht von Unknown, 19:51“
„Hallo, oder nein, nicht hallo. Auf jeden Fall habe ich mir in dieser Nachricht mehr Zeit gelassen und bin froh, dass du dich wieder eingeloggt hast, darauf hab ich gewartet.“ Grinsend verdrehte Amelie die Augen, war ja klar. „Mir geht es übrigens genauso gut wie dir. Was machst du so? Ich sitze vor dem Laptop und bemühe mich, in Zeitlupe zu antworten, und du?“
Das Mädchen antwortete schnell und schrieb ihm immer wieder zurück, bis es leider schon 20:15 wurde. Leicht enttäuscht verabschiedete sie sich für den heutigen Tag und schlüpfte schnell in eine gemütliche, natürlich schwarze, Jogginghose. Mit einem gekünstelten Lächeln im Gesicht erschien sie im Wohnzimmer, wo bereits ihre Mutter wartete. Sie hatte Chips auf den Tisch gestellt und daneben Cola. Eigentlich sollte sie wissen, dass Amelie genau dieses Getränk verabscheute, allerdings sagte sie besser nichts dazu. Wahrscheinlich würde sie es später nochmals erwähnen, aber zuerst wollte sie einen gemütlichen Abend vorm Fernseher genießen. Die Sorgen konnten mal woanders bleiben.
„Willst du was trinken?“
„Nein, ich hab oben gerade Wasser getrunken und derweil hab ich keinen Durst, schon gut.“
Sie lächelte leicht und griff nach der Fernbedienung. Nachdem sie herausgefunden hatte, wo etwas Gutes lief, zippte sie ein paar Mal durch die Kanäle, bis sie endlich einen Film fand, der ihnen beiden gefiel. So richtig passte Amelie allerdings nicht auf, sie beobachtete die Reaktionen ihrer Mutter, wenn eine Person in dem Film verschiedene Sachen tat. Als die Hauptdarstellerin Alkohol trank, warf sie einen Blick auf Amelie und nickte in Richtung Fernseher.
„Ich bin froh, dass du normal bist und keinen Alkohol trinkst. Du bist eine tolle Tochter, die beste überhaupt“, lobte sie und nahm ein Glas Coca Cola in die Hand.
„Danke, toll, dass du findest, dass ich normal bin“, murmelte sie in einem seltsamen Ton und fügte in Gedanken noch hinzu, dass sie die Anormalste von der Klasse war. Die Person im Film war normal, Amelie wiederum nicht.
Als der Film endlich zu Ende war, lehnte Caro sich entspannt zurück und schloss ein paar Minuten die Augen, als würde sie schlafen. Natürlich wusste das Mädchen, worauf Karoline wartete, nämlich auf das, dass sie das Gespräch vom Abendessen wieder aufnehmen würde, doch sie tat es nicht. Nach weiteren Minuten, in denen keiner von beiden sich bewegte, stand Amelie auf und verschwand entschuldigend in ihrem Zimmer. In ihrem Herz machte sich mehr als nur ein bisschen Enttäuschung breit, sie hatte gehofft, dass sie wenigstens ein paar winzige Details herausfinden würde, aber ihre Mutter war da wohl strikt dagegen. Ohne nochmals bei „friendsplace“ einzusteigen, ließ sie sich ins Bett fallen und schlief, mal wieder ohne sich abzuschminken, nach ein paar Sekunden tief und fest ein. Ihre Hoffnung wurde allerdings nicht erfüllt, sie träumte normale Träume, nicht den einen interessanten.
1.6 ~*~ Verschwunden
Müde öffnete sie die Augen, es war noch finster im Zimmer, bis auf die schmalen Lichtstrahlen, die durch die geöffnete Tür in den Raum fielen. Mit einem Blick auf die LED-Uhr, die einen halben Meter über ihrem Kopfpolster hing, stellte sie fest, dass es bereits nach 12 Uhr war. Stöhnend rappelte Amelie sich hoch und vergewisserte sich bei einer anderen Uhr nochmals, doch die Uhrzeit stimmte. Sie wollte doch noch so viel erledigen! Als sie fieberhaft nach Aktivitäten suchte, fielen ihr allerdings so gut wie keine ein. Da waren noch dieser seltsame Junge und das Problem mit ihrer Mutter, beides wollte sie heute lösen.
Nachdem sie ihr Gesicht wieder von der Schwärze befreit hatte, schlich sie hinunter in die Küche. Auf der Treppe nahm Amelie sich vor, nie wieder zu vergessen, sich abzuschminken. Wirklich nie wieder.
„Hi Mum, ich bin wach“, rief sie durch das untere Stockwerk, doch es kam keine Antwort. Leicht besorgt band sie sich ihre strubbeligen, nicht mehr ganz so glatten Haare, zu einem Rossschwanz zusammen und durchstreifte kurz das Haus. Caro war nirgends zu finden. Misstrauisch setzte sie sich auf den Küchentisch, der reichlich gedeckt war, allerdings nur für eine Person. Das Blatt Papier, das zusammengefaltet auf
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