Schwingen des Vergessens
und werde dir, sobald du mir schreibst, zurück schreiben. Das kann ich immer machen, nicht nur am Wochenende, also scheue dich nicht davor, mir zu schreiben. Ich hab eine Frage, wahrscheinlich blöd, aber verstehst du dich gut mit deinen Eltern?“ Nachdenklich überdachte sie seine Frage, es war unterschiedlich, öfters stritt sie sich mit den beiden, aber das war doch ziemlich normal.
„Naja, schon okay, manchmal streiten wir, aber sonst gut“, tippte Amelie und überlegte kurz, ob sie von den Familienproblemen schreiben sollte, entschied sich aber dann dagegen. Im Grunde genommen ging es ihn nichts an, auch wenn er noch so nett fragte. „Und wie ist das bei dir?“ Sobald sie abgeschickt hatte, erschien auch schon die nächste Nachricht. War dieser Typ denn vollkommen verrückt? So schnell konnte nicht einmal ein Weltmeister schreiben.
Unknown: Ja, bei mir, wie ist es bei mir… Würde ich gerne wissen, aber meine Eltern sind weit weg, sehr weit weg, um genau zu sein.
Wolfsmädchen: Verdammt, wie kannst du so schnell schreiben? Warum weit weg? Wohnst du etwa jetzt schon alleine? Ich dachte du bist erst 16, so wie ich.
Unknown: Gewissermaßen wohne ich alleine, aber ich besuche sie öfters. Und ich schreibe so schnell, weil ich den Text schon vorbereitet hab, ich wusste ja, dass du mir die Gegenfrage stellst.
Wolfsmädchen: Okay, ich verstehe, aber du bist sinnlos. Wie schaffst du es, alleine zu wohnen? Ich meine, wird man da nicht schon depressiv? Und vor allem, woher kriegst du das ganze Geld dafür? Ich könnte mir nicht einmal eine einzige Woche leisten, in der ich mich selbst ernähren müsste…
Unknown: Nein, wie gesagt, ich besuche sie oft. Genug oft, um nicht in irgendeine Phase zu fallen.
Wolfsmädchen: Bist du nicht oft traurig?
Unknown: Soll das ein Verhör sein? Ich bin nicht traurig und nicht depressiv. Hat sich die Lage bei dir schon gebessert? Eigentlich sollte ich dich ja fragen, ob DU immer noch depressiv bist.
1.7 ~*~ Er weiß so viel…
Verwirrt zuckte sie von der Tastatur zurück. Verdammt noch mal, woher wusste er, dass sie depressiv war? Die Worte klangen seltsam, aber es stimmte. Sie hatte ihm nichts davon erzählt. Kein einziges Wort. Zitternd durchsuchte sie ihr kurz gehaltenes Profil, fand aber auch keine Andeutung darauf, dass sie wie ein Gruftie herum lief. Ihr Profilbild hatte sie geändert, schwarze Dunkelheit, aber wie sollte er daraus schließen, dass an ihr alles schwarz war? Verständnislos fuhr sie den Laptop herunter und setzte sich in ihre Nische, um weiter an dem angefangenen Bild zu zeichnen. Mit der grauen, handlichen Fernbedienung schaltete sie den Radio ein und drehte die Lautstärke so laut, dass keine anderen Gedanken mehr in ihr drinnen Platz hatten. Durch den lauten Bass, der den Schrank, in dem ihre Nische sich befand, vibrieren ließ, erkannte sie das eigentliche Lied gar nicht mehr. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich von der lauten Musik treiben. Es fühlte sich toll an. Und die Musik wirkte. Sie vergaß alle Gedanken und konzentrierte sich nur mehr auf den durchdringenden Bass.
Irgendwann blinzelte sie, als ein unangenehmes Piepsen in ihren Ohren einsetzte und das Genießen somit unmöglich machte. Eilig tastete sie nach der Fernbedienung und schaltete die Anlage überhaupt aus. 40 Stufen der Lautstärke konnte das Gerät schaffen, unter 15 hörte Amelie allerdings nichts mehr. Mit dröhnendem Kopf stolperte sie ins Nebenzimmer, ins Bad um genau zu sein, und streckte den Kopf ins Freie. Der kühle Lufthauch tat gut, es war die Herbstluft, die das Mädchen so sehr mochte. Draußen war es sonst still, Vögel zwitscherten und ein paar Mal fuhr ein Auto vorbei. Entspannt kniete sie sich auf die Waschmaschine und genoss nun die Stille. Leider schaffte Amelie es nicht, in solchen Situationen alles zu verdrängen, schon wieder kam ihr Unknown in den Sinn. Schaudernd sah sie sich um. Bestimmt hätte er im Internet etwas über sie herausgefunden, doch da hätte er erst ihren Namen wissen müssen, doch den hatte sie ihm nicht gesagt. Der Typ hatte schließlich selbst darum gebeten, erst nach einer Woche nach seinem echten Namen zu fragen, laut den FAQ-Regeln zumindest. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, erlisch allerdings sofort wieder. Es war toll mit ihm zu schreiben, doch die Möglichkeit, dass er sie verfolgte oder sonst was machte, schien ihr grauenhaft. Traurig schloss sie das Fenster, warf noch einen letzten Blick auf die
Weitere Kostenlose Bücher