Schwur der Sünderin
begegnet. Bald würde die Sonne untergehen, und sie befand sich inmitten eines großen Waldgebietes. »Nichts als Bäume«, flüsterte sie und spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Tapfer folgte sie dem Weg, doch der Wald nahm kein Ende. Ich kann unmöglich unter freiem Himmel nächtigen, dachte Anna Maria bekümmert, denn sie wusste, dass sie selbst an einem Feuer erfrieren könnte.
Sie rieb sich über die Arme. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, dass es kälter wurde. Ich werde so lange marschieren, bis ich eine Behausung finde, entschied sie.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und Anna Marias Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Trotzdem konnte sie zeitweise den Weg nicht erkennen, da dichte Tannen verhinderten, dass das spärliche Mondlicht zwischen ihnen hindurchscheinen konnte. Es gruselte Anna Maria allein im Wald. Das
Knirschen des harschen Schnees erschien ihr im Dunkeln lauter als bei Tage. Auch glaubte sie manchmal dichtes Schnauben und verzerrte Schreie zu hören.
»Du musst dich nicht fürchten«, sprach sie sich leise Mut zu. »Das sind nur die Geräusche des Waldes.«
Anna Maria wusste nicht, wie lange sie gelaufen war und wo sie sich befand, denn in der Dunkelheit sah alles gleich aus. Mehrmals strauchelte sie, da sie abgebrochene Äste, die vor ihr lagen, oder Unebenheiten im Boden nicht erkennen konnte. Als sie spürte, dass die Müdigkeit stärker wurde, hielt sie inne. Sie entnahm ihrem Beutel einen Apfel und trank von dem Würzwein, der sie leicht belebte. Während sie weitermarschierte, aß sie das verschrumpelte Obst.
Ohne nachzudenken, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie spürte vor Kälte weder ihre Hände noch ihr Gesicht, auch die Füße schienen gefühllos zu sein. Zitternd zog sie sich den Schal über den Mund und das Kopftuch tiefer in die Stirn. Die Kräfte schienen sie zu verlassen. Anna Maria wollte nur noch schlafen.
»Wenn du jetzt zusammenbrichst, wirst du sterben und Veit ebenso«, flüsterte sie weinend und torkelte vorwärts. Als sie sich mit den Handschuhen über die müden Augen rieb, kratzte der gefrorene Schnee in der Wolle über ihre Lider. »Au«, schrie Anna Maria leise und schloss die brennenden Augen.
Kurz darauf blickte sie blinzelnd auf und glaubte ein Reh zu erkennen, das vor ihr über den Weg sprang. Als eine menschliche Gestalt mit einer Armbrust dem Tier hinterherhechtete, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Erschrocken hielt sie die Luft an und ging langsamen Schritts an der Stelle vorbei, wo Mensch und Tier im Wald verschwunden waren. Doch dann rannte sie los, bis der Abstand groß genug war, dass sie sich sicher fühlen konnte.
Außer Atem hielt sie inne und schnaufte tief durch. Plötzlich
sah sie vor sich in der Ferne Lichter und hörte leises Hundegebell. Die Freude darüber verdrängte ihre Müdigkeit, und so schnell sie konnte, ging sie dem Licht und dem Hundekläffen entgegen.
Als der Wald sich lichtete und Mondschein die Umgebung beleuchtete, konnte Anna Maria eine Kate erkennen, in der das Licht mittlerweile erloschen war. Auch das Hundebellen war verstummt.
Anna Maria überlegte nicht lange, sondern eilte auf die Hütte zu und klopfte beherzt an die Tür. Als niemand öffnete, presste sie ihr Ohr gegen das Holz und glaubte im Innern der Hütte leise Stimmen zu hören, ebenso wie geschäftiges Treiben. Erneut klopfte Anna Maria, als die Tür aufgerissen wurde und ein Mann mit einer Laterne in der Hand vor ihr stand. Erstaunt betrachtete er die junge Frau und brummte: »Was willst du?«
»Ich suche ein Nachtlager«, erklärte Anna Maria mit schwacher Stimme.
»Mach, dass du fortkommst«, sagte der Bauer ruppig. Als er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen wollte, fiel sein Blick auf den Pilgerstab. Er hob die Laterne, um den Stock besser sehen zu können, und blickte Anna Maria nachdenklich an. Plötzlich sagte er: »Gott grüße dich, Gesell, was hast du für ein Wesen?«
»Der arm’ Mann in der Welt mag nit mehr genesen!«, antwortete sie ernst.
Nun entspannte sich das unfreundliche Gesicht des Mannes, und er blickte sich vorsichtig um. »Bist du allein?«, wollte er wissen.
Anna Maria nickte.
»Dann komm herein. Für dich wird sich ein Plätzchen finden.«
Dankbar folgte ihm Anna Maria in das Innere der Hütte.
Eine Frau, die sich hinter der Tür versteckt hatte, trat schüchtern hervor. Leise raunte der Mann ihr etwas ins Ohr, woraufhin
sie Anna Maria erstaunt musterte. Dann nickte sie ihr
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