Schwur der Sünderin
über das abgemähte Kornfeld.
Die Halme pieksten Anna Marias blanke Füße und hinterließen blutende Kratzer. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht und hopste von einem Fuß auf den anderen. Endlich hatte sie den Wald erreicht – allerdings an einer anderen Stelle als Veit.
Anna Maria zögerte, tiefer ins Gehölz zu gehen. Die Wunden an ihren Füßen und an ihren Waden brannten wie Feuer. Was soll ich machen?, dachte sie und wischte sich mit dem Saum ihres Nachthemds über die blutenden Hautabschürfungen. Durch die Zweige der Bäume drang wenig Licht, sodass sie kaum etwas erkennen konnte.
Als plötzlich ein Tier aufschrie, zuckte sie zusammen und wäre am liebsten umgekehrt. Obwohl ihre Neugierde größer war als ihre Furcht, zauderte sie. Sei kein Angsthase, schimpfte Anna Maria mit sich. Als du Matthias und Peter gesucht hast,
musstest du allein in fremden Wäldern übernachten. Hier kennst du nahezu jeden Baum, jeden Strauch und jede Wiese.
»Was soll mir hier schon passieren?«, sprach sie sich leise Mut zu.
Anna Maria blickte sich zaghaft um und wagte sich langsam Schritt für Schritt tiefer in den Wald. Es wurde stetig düsterer, und sie konnte kaum etwas erkennen. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Schon dachte sie mutlos ans Aufgeben, als sie einen schwachen Pfiff hörte.
Anna Maria erkannte die Melodie sofort und wusste, was sie bedeutete. Veit hat ein Wolfsrudel gefunden, dachte sie und wusste nicht, ob sie sich freuen sollte. Zögernd ging sie in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, als sich vor ihr eine kleine Waldlichtung öffnete. Die Bäume standen weit auseinander, sodass der Schein der Mondsichel den Waldboden spärlich beleuchten konnte.
Mitten auf der Lichtung erkannte Anna Maria Veit. Sie versteckte sich hastig hinter einem Baum, um unbemerkt das Schauspiel zu beobachten, das sich ihr bot.
Veit kniete auf dem Boden und spielte mit mehreren Wolfswelpen, während ein größeres Tier neben ihm lag und zu schlafen schien. Immer wieder pfiff er die Melodie, und wenn die Wolfsjungen lauschend ihre Ohren spitzten, kraulte er ihnen das Fell.
Ich verstehe nicht, dass die Wölfin so ruhig neben Veit liegt, dachte Anna Maria und schüttelte ungläubig den Kopf. Als ob das Tier ihn schon ewig kennen und ihm vertrauen würde, überlegte sie weiter.
Plötzlich raschelte es hinter Anna Maria. Sie blickte sich um, und ihr Atem stockte. Zwei Wölfe standen mehrere Schritte hinter ihr und knurrten sie an – zuerst nur leise, doch dann wurde das Knurren lauter. Anna Maria presste sich ängstlich fest gegen den Stamm und hob die Hände schützend vors Gesicht.
Das Knurren verstummte, und sie spürte, dass eine feuchte Schnauze an ihrem Bein schnüffelte und schließlich an den Wunden leckte. Anna Maria stand stocksteif da und glaubte jeden Augenblick in Ohnmacht fallen zu müssen. »Bitte tut mir nichts!«, wisperte sie und spreizte langsam ihre Finger, um zu sehen, was um sie herum geschah.
Ein dritter Wolf stand vor ihr und zog bedrohlich die Lefzen hoch. Mutig ging das Tier auf die anderen zu und knurrte dabei. Er will mich beschützen, dachte Anna Maria und ließ die Hände langsam sinken. Nachdem der Wolf einmal kurz gebellt hatte, senkten die beiden anderen ihre Köpfe und verschwanden im Dickicht des Waldes. Trotzdem rührte sich Anna Maria nicht. Achtsam beobachtete sie den Wolf, der ihr offenbar geholfen hatte und sich ihr nun winselnd zuwandte. Seine goldfarbenen Augen blickten Anna Maria aufmerksam an, doch dann sprang der Wolf unverhofft an ihr hoch und leckte ihre Mundwinkel. Erschrocken schrie sie auf und wischte sich angeekelt über die Lippen.
»Du erkennst sie nicht?«, fragte Veit leise, der plötzlich neben ihr stand. Die Welpen liefen ihm winselnd hinterher. Sofort ließ der große Wolf von Anna Maria ab und kümmerte sich um die Kleinen.
Anna Maria blickte Veit an und musterte dann das Tier. Nach einigen Augenblicken fragte sie ungläubig: »Du meinst, das ist das Weibchen?«
Veit musste nicht antworten. Der Glanz seiner Augen bestätigte ihre Vermutung. »Ich habe sie Minnegard genannt«, sagte er.
»Du hast einem Wolf einen Namen gegeben?«, fragte Anna Maria ungläubig. Veit nickte. »Es ist ein germanischer Name und bedeutet ›die liebevolle Beschützerin‹.«
Anna Maria wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und fragte vorsichtig: »Wer bekam noch einen Namen?«
»Die Welpen«, antwortete Veit und griente. »Er hier heißt
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