Schwur der Sünderin
den Heuschober. Dunkelheit empfing sie.
»Veit!«, wisperte sie ängstlich.
»Ich bin hier«, rief er gedämpft von der Tenne herunter. Anna Maria blickte nach oben. Veit erschien über ihr und hielt eine Laterne in die Höhe, sodass sie die Leiter sehen konnte, die an den Tennenboden gelehnt war. Vorsichtig stieg Anna Maria die schmalen Stufen hinauf. Veit nahm oben ihre Hand und führte sie in die Mitte der Tenne, wo er eine Decke über dem Heu ausgebreitet hatte. Er stellte die Laterne auf blanken Holzboden, damit das Stroh nicht Feuer fangen konnte, und setzte sich nieder. Dabei zog er Anna Maria sanft zu sich herunter. Als sie neben ihm saß, umfasste Veit mit beiden Händen ihr Gesicht und blickte ihr tief in die Augen.
Anna Maria erwiderte den Blick und war wieder einmal von dem Blau seiner Augen verzaubert. So blau wie der Himmel, dachte sie, als Veit sich über sie beugte.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte er, bevor er sie leidenschaftlich küsste.
Anna Maria streichelte zärtlich seine Wange und strich liebevoll seine Haare zurück. Als der Geruch von Seife in der Luft lag, flüsterte sie heiser: »Du duftest.«
Veit lächelte und streckte sich auf der Decke aus, sodass Anna Maria ihren Kopf auf seine Brust betten konnte. Leise fragte sie: »Wie geht es Minnegard, Fehild, Modorok, Degenhart und all den anderen Wölfen?«
»Sie haben sich gut eingelebt«, antwortete Veit ebenso flüsternd. »Ich hoffe, dass sie sich in der Schlucht wohlfühlen und dort bleiben werden. Alles ist so verlaufen, wie ich es erhofft hatte, doch nun bin ich froh, wieder hier zu sein.« Veit zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Ich habe vom Gesinde gehört, dass Annabelle unglücklich ist.«
Veit konnte spüren, wie Anna Maria mit den Schultern zuckte. »Annabelle fühlt sich nicht wohl in Mehlbach. Sie hatte erwogen, nach Mühlhausen zurückzugehen, auch weil sie für Peter nichts empfindet. Ich kann verstehen, dass sie nach Matthias’ Tod unglücklich ist. Doch habe ich ihr geraten, dass sie an ihr Kind denken muss und nicht selbstsüchtig sein darf. Peter wäre ihr ein guter Ehemann und dem Kind ein guter Vater. Ich hoffe, dass sie das eines Tages zu schätzen weiß.«
»Nicht jeder hat das Glück, das wir haben«, flüsterte Veit und drückte Anna Maria einen Kuss auf die Stirn. »Wie ist es dir ergangen, als ich fort war? Hast du mich vermisst?«, wollte er wissen.
Anna Maria hob den Kopf und blickte ihn ernst an. »Ich habe tagtäglich mit den Hochzeitsvorbereitungen zu tun, sodass ich deine Abwesenheit nicht bemerkt habe.«
Als Veit sie ungläubig ansah, prustete Anna Maria los und ließ sich lachend ins Heu fallen. Sogleich rollte Veit sich über sie und schimpfte grinsend: »Du unverschämtes Weib! Nun werde ich mein Hochzeitsgeschenk für dich behalten.«
Sofort setzte sich Anna Maria hoch und blickte ihn überrascht an. »Ein Hochzeitsgeschenk?«, fragte sie. »Unsere Vermählung findet erst nächste Woche statt.«
»Ich weiß«, flüsterte Veit. »Aber ich möchte nicht bis zur
Hochzeit warten. Du sollst dich jetzt schon daran erfreuen können.« Er griff hinter sich und holte einen kleinen Lederbeutel hervor, der mit einer dünnen Schnur verschlossen war. Während er die Kordel löste und das Säckchen öffnete, ließ er Anna Maria nicht aus den Augen. Wie ein Kind starrte sie voller Erwartung auf seine Hände.
Veit zog ein dunkles Lederband aus dem Beutel, an dem ein Anhänger hing. Er legte beides in Anna Marias Handfläche und flüsterte: »Dieses Medaillon schenke ich dir als Zeichen meiner Liebe.«
Anna Maria konnte fast nichts erkennen, da ihr Tränen in die Augen schossen. Behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über das goldene Medaillon, dessen Vorderseite eine Blüte zierte. Auf der Rückseite war das Wappen der von Razdorfs eingraviert.
»Sie ist wunderschön«, wisperte Anna Maria. »Ich habe noch nie etwas so Wertvolles besessen.« Mit tränennassem Blick sah sie Veit an, der ihr die Kette um den Hals legte und die Bänder im Nacken verknotete.
In diesem Augenblick wurde das Scheunentor geöffnet und wieder geschlossen. Ein Mann und eine Frau waren eingetreten und unterhielten sich leise.
Veit löschte sofort die kleine Laterne, damit der Lichtschein ihn und Anna Maria nicht verraten konnte. Als es unter ihnen raschelte, wussten sie, dass sich die Besucher im Stroh niedergelassen hatten. Verhaltenes Gekicher und Geflüster waren zu hören, die von längeren Pausen
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