Schwur des Blutes
traf einen alten Tisch und einen zusammengesunkenen Mann im Rollstuhl.
Timothy schloss leise die Tür und fuhr sich durch das feuchte Haar, um die letzten nebulösen Schleier in seinem Kopf loszuwerden. Als er in den verkohlten, unterirdischen Gängen des Opernhauses erwachte, hatte er nur eines im Sinn: in dieses Heim zu gelangen. Genau durch diese Tür zu gehen. Nur weshalb?
Das neu erlangte Wissen über Dad, Mom und seine Gabe als Krýos wirbelte durch sein Hirn, das Chaos drohte, ihn zu übermannen. Derart unsicher hatte er sich seit Langem nicht gefühlt. „Ethos? Bist du noch da?“
„Aber sicher, Timothy. Ich bin bei dir.“
„Danke.“
„Ich glaube, wir werden zusammen alt werden.“
Das klang in der jetzigen Situation ganz nett, doch hörte es sich mit dem leisen Unterton in ihrer Stimme eher wie ‚ich befürchte, wir werden zusammen alt werden‘ an.
Unbehagen kroch Timothy durch den Leib wie eine Magen-Darm-Grippe, er fühlte sich wie ein Eindringling, stand in einem privaten Zimmer eines alternden Mannes, der ihn bisher nicht einmal wahrgenommen hatte. Oder? Timothy war sich nicht sicher. Kannte er den Menschen? Obwohl er es sich sonst stets untersagte, durchleuchtete er den Mann. Aufgrund der vielen Falten, der gräulichen Haut und dem von weißen Strähnen durchzogenen Haar hatte er ihn für fünfzig gehalten, aber er war erst Ende dreißig. Eine Fraktur der Wirbelsäule fesselte ihn an den Rollstuhl, querschnittsgelähmt für immer. Eine grausame Schicksalsfügung. Doch was sollte er hier? Das Gefühl, dass er diesen Menschen kannte, wuchs mit jeder Sekunde.
Erst jetzt hob der Rollstuhlfahrer den Kopf. Matte, müde Augen blickten ihn an. Er schien zu wissen, wen er vor sich hatte. Wusste, was Timothy war.
„Dein ‚Lauf‘ rettete auch mir und meinen ehemaligen Kumpeln das Leben.“
Timothy trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als ihn die Erkenntnis traf. „Ragnar!“
Auf dem blassen Gesicht erschien ein sanftes Lächeln. „Ja, für eine lange Zeit durfte ich immer wieder meinem Schicksal in Ragnar Skythens Gestalt entfliehen.“ Er faltete die Hände über den schmalen, unbeweglichen Oberschenkeln. „Aber nun bin ich für den Rest meines menschlichen Lebens Randolf Smith.“
Timothys Gefühle schwankten von Wut und Rache, wegen dem, was er Sam und Chris angetan hatte, zu Mitleid. Weswegen war er bloß hier? Er sah sich um und setzte sich auf einen Stuhl. Weshalb auch immer die Fürsten es für sinnvoll oder nötig erachtet hatten, ihn zu Randolf zu schicken, er sollte unvoreingenommen an die zweifellos tragische Geschichte herangehen.
„Wieso kannst du dich nicht mehr in einen Werwolf verwandeln?“
Randolfs Blick wanderte über Timothys Stirn, dann senkte er die Lider. „Der weise Rat der Wesen verurteilte mich dazu, weil ich getötet habe.“
Timothy schluckte hart. Die Fürsten … sie bestraften also doch noch. Warum verschonten sie ihn? „Magst du mir erzählen, was vorgefallen ist?“
~~
Samantha wischte sich über das Gesicht. Tränen und Regentropfen vermischten sich, rannen ihr vom Kinn und fielen auf die Oberschenkel. Sie wusste nicht, wie lange sie schon vor Christians Grabstein im Gras kniete.
Man lebt zweimal: das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung. Der französische Schriftsteller Honore de Balzac hatte Chris seit seiner Jugend begeistert. Sam hoffte, ihm mit der Weisheit auf seinem Grabmal eine kleine Freude gemacht zu haben.
Ein Donnerschlag ließ sie wie vom Blitz getroffen zusammenzucken. Sam legte den Kopf in den Nacken, blinzelte aufgrund der vielen Tropfen, die sie trafen. Dunkelgraue Gewitterwolken durchzogen rasch den Himmel wie Vorboten eines geisterhaften Armageddons. Ein ungewohnt ungemütlicher Spätfrühling. Überall im Land wüteten Tornados, Flüsse traten über die Ufer. Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Sonst hatte sie sich nie für das Wetter interessiert, doch seit einiger Zeit hatte sie das diffuse Gefühl, als wäre der Wettergott wegen ihr erzürnt. Ein schräger Lacher gluckste ihr aus der Kehle, der in einem Aufschluchzen endete. Erst Chris und jetzt auch noch Timothy. Sie wollte beide wiederhaben!
Erneut rollten Tränen. Jeder verbarg so seine Geheimnisse. Aber die Beschuldigungen des Werwolfes Ragnar entbehrten jeglichen Sinns. Oder? Er hat mir meine Frau gestohlen. Das klang völlig absurd. Chris hatte doch nichts mit einer Werwölfin gehabt. Er stahl sie mir! Er ben… Verflucht. Das
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