Science Fiction Almanach 1983
zuvor. Vorwärts zur Natur! Das aktuelle Bewußtsein ist auf Beschränkung getrimmt. Und was gibt es Beschränkteres als den Homo sapiens?“ Nach dieser Anklagerede fühlte sich Tessa erschöpft, aber sie wußte, daß die durchhalten mußte. Sonst war alles umsonst gewesen, was sie gewagt hatte.
„Seid vernünftig, Mädchen!“ Die Funktionärin schaltete auf mütterlich um. „Zehn Minuten Hypno-Therapie, und ihr habt den ganzen Spuk hier vergessen. Hat Tessa euch denn ihre Narbe schon gezeigt?“
„Nein“, antworteten Muja und Chalila wie aus einem Munde.
„Daran habe auch ich nicht gedacht“. Laserma strich sich ihre Locken zurück.
Hohn flog über das Gesicht der Funktionärin. „Dann fordere ich Tessa hiermit auf, uns allen ihre Narbe zu zeigen!“
Muja griff gierig nach Tessa. Doch der Blick aus dem einen Auge stoppte sie.
„Keine Aufregung, ich mach’ das schon!“ Tessa ließ ihren rostroten Parka achtlos zu Boden gleiten, ging der Helligkeit wegen in Richtung Höhlenausgang und zog mit beiden Händen ihren Rollpulli bis zu den Schulterblättern hoch. Ihr Hosengürtel saß genau auf den Hüften.
„Nun?“ Argo hielt sich als Beobachterin etwas abseits.
„Nichts! Nichts zu sehen!“ erklärten Muja und Chalila, die Tessas Haut betrachteten, übereinstimmend.
„Nichts? Genau das habe ich mir gedacht!“ Argo grinste unverhohlen.
Tyra begann zu stammeln: „Ja, aber … ja, aber …“
„Seht doch genauer hin!“ Tessas Aufforderung klang ungeduldig.
Tyra beugte sich vor. „In der rechten Nierengegend zeich net sich ein handbreiter, etwas hellerer Haut streifen ab.“
Die anderen Mädchen bestätigten diese Entdeckung.
„Eine kosmetisch perfekte Kunsthautabdeckung“, verriet Tessa. „Narben passen nicht in unsere Paradieszeit! Es soll alles ganz normal aussehen. Ist doch klar.“
„Kosmetik für deine Lügen, wie?“ Argo spielte die Überlegene.
Laserma fiel ein, daß in der Hülse ihres Zweifarbenlippenstifts eine batteriebetriebene Nagelfeile steckte.
„Prima!“ Tessa fröstelte wegen des Windes. Doch tapfer wies sie Laserma an, die Kante der Schleifscheibe rechts zwischen dem zweiten und dritten Lendenwirbel anzusetzen und einen Schnitt in das Hautstück zu fräsen.
Laserma ließ das kleine Gerät, das in der Nachmittagssonne kurz aufblitzte, mutlos sinken. „Ich kann nicht.“
„Dann soll Argo es selbst versuchen!“
„Du bist verrückt, Tessa!“
„Misch dich nicht ein, Tyra! Also, erst einfräsen … nur keine falschen Hemmungen. Kunsthaut blutet nicht.“
„Ich mach’s! Argo griff nach Lasermas Verschönerungsutensil, klappte die Schutzkappe hoch und schaltete den Minimotor ein.
„Das klingt ja wie beim Zahnarzt“, jammerte Chalila und guckte dennoch gebannt auf die Schleifscheibe, die mit hoher Umdrehungszahl in Lasermas Haut schnitt. Sie blutete tatsächlich nicht.
„Sobald der Schnitt zweifingerbreit ist, versuchen Sie das Hautstück weiter aufzureißen.“ Die Anweisung klang sachlich und kühl.
„Ich habe überall Gänsehaut.“ Laserma begann sich die Arme zu reiben.
Tyra ertrug den Anblick nicht länger. Argo hingegen war mit perverser Freude bei der Sache. Sie schaltete das Gerät aus. Ein Moment atemloser Stille folgte. Sogar die Möwenschreie verstummten. Dann hörten alle ein kurzes Geräusch wie von zerreißender Seide.
„Ach, du irrer Globus!“ entfuhr es Muja.
„Die Narbe!“ schrie Tyra.
Tatsächlich, eine vierzehn Zentimeter lange, tiefe, häßliche Narbe kam unter der zerrissenen Kunsthaut zum Vorschein.
Tessa drehte sich einmal um die eigene Achse. „Der Stempel der Wahrheit in meinem Fleisch!“ sagte sie erschöpft und
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