Science Fiction Almanach 1983
„Likendeeler“ zu den Gleichteilern der Organspenderinnen …
Ein gellender Schrei zerschnitt Tyras Gedankenkette.
„Mein Auge! Mein Auge!“ Es klang nach panischer Angst. Tessa legte beide Hände wie Schalen über ihr gesundes Auge, als versuche sie es vor einer Verletzung zu schützen. Blind stolperte sie über die Grasnarben. An der schmälsten Stelle hatten sie die Inselbreite querfeldein gekreuzt und bewegten sich genau auf den West-Falm zu. Südlich der Lummen-Felsen mußten sie wieder auf den Klippenrandweg stoßen.
Tyra lief an Tessas rechte Seite, wo ihr Sehfeld eingeschränkt war. Die Augenklappe saß noch an ihrem Platz.
„Was hast du, was ist los?“
„Hörst du nicht den Ton … dieses helle vibrierende Flirren? Ich muß los. Ich muß gehen …“
„Aber wohin denn?“ Vergeblich versuchte Tyra die Freundin zurückzuhalten. „Jill, warum helfen Sie ihr nicht?“
„Laß sie!“
Tessa nahm die Hände vom Gesicht. „Hörst du? Sie rufen mich“, murmelte sie mehrmals hintereinander. Sie schien wieder normal sehen zu können. Aber sie bewegte sich nicht mehr normal … marionettenhaft setzte sie einen Fuß vor den anderen – wie an unsichtbaren Drähten geführt.
„Aber … Tessa bewegt sich ja plötzlich wie …“ Entsetzen lähmte Tyras Stimme.
„Wie ein SEMIROBOTER ! Ein gelungener Prototyp! Findest du nicht auch?“ Jills Stimme klirrte vor Kälte.
„Semi-Roboter?“ Völlig unvermittelt sauste der Tonpfeil in ihr Ohr. Tyra begann zu schreien. Diesmal gab es keine Gegenwehr wie am Nachmittag in der Wohnspirale. Vier neue Töne surrten durch ihren Kopf, bündelten sich zu einer akustischen Lanze, die sich tiefer und tiefer bohrte … zuletzt schien sich ein ganzer Hornissenschwarm in ihrem Schädel eingenistet zu haben.
„Hallo Muja, Laserma, Chalila! Nun seid ihr alle wieder brav vereint.“ Die Stimme, die das Tosen im Kopf deutlich durchdrang, gehörte Argo. Durch einen Tränenschleier sah Tyra die Funktionärin, die an einem Gerät hantierte, das der Fernsteuerung von Schiffs- und Flugmodellen ähnelte. Die drei aufgerufenen Mädchen gingen einen sauberen Kreis und taumelten sodann hinter Tessa her geradewegs auf den Felsabsturz zu. Vierzig Meter tief fielen die Steilwände hier nahezu senkrecht ab. Und Tyra schloß sich diesem Zug der Lemminge, der akustisch gelenkten Semi-Roboter willenlos an.
Kurz bevor sie an das Schutzgeländer stießen, verstummten alle Frequenzen. Wie nach einem Alptraumerwachen starrten sich die fünf Mädchen an, ohne rechtes Begreifen, was soeben mit ihnen passiert war: die erfolgreiche Demonstration ihrer völligen Steuerbarkeit.
Jill Larsson und Argo lächelten sich zu. Jill war nicht nur die perfekte Hai-Anglerin. Ebenso geschickt wußte sie mit der Psycho-Angel umzugehen. Und die Funktionärin unterstützte sie als ergebene Vasallin.
Plötzlich riß sich Tessa die Augenklappe ab und warf sie hinter sich, wo sie eine Windboe als willkommenes Spielzeug ergriff.
Die Mädchen wichen erschrocken im Halbkreis zurück.
„Ja, glotzt nur, glotzt!“ Mit zuckenden Fingern löste Tessa ihr Glasauge aus der Augenhöhle, schleuderte es auf den steinigen Boden und zertrat es mit den Stiefelabsätzen.
Keines der Mädchen wagte eine Bewegung.
„Bald werdet auch ihr eure leeren Augenhöhlen befingern können! Antworte, Argo! Antworte mir, Jill! Habt ihr mir deshalb das gesunde Auge herausgeschnitten, um mir euren Krankmacher, euren Leittonempfänger in die Prothese schmuggeln zu können?“
Argo trat einen Schritt vor. „Durch deine Augenspende hast du ein zehnjähriges Mädchen vor völliger Erblindung bewahrt. Es handelte sich
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