Science Fiction Anthologie Band 3 - Die Vierziger Jahre 1
kein Mensch mit derselben geistigen Einstellung, mit der er sein eigenes Gesicht im Spiegel oder auf Bildern betrachtete, das Gesicht eines anderen sieht. Kein geistig normaler Mensch erwartet jemals, seinen Kopf auf einem anderen Körper wiederzusehen.
Wilson erkannte deutlich, daß sein Gegenüber von seinem Aussehen verblüfft war; aber er sah ebenso klar, daß der andere keine Ahnung von seiner Identität hatte.
„Wer sind Sie?“ fragte sein Double plötzlich.
„Ich?“ erwiderte Wilson. „Erkennst du mich wirklich nicht?“
„Ich weiß es nicht genau. Sind wir uns denn schon einmal begegnet?“
„Nun – nicht im eigentlichen Sinne des Wortes“, wich Wilson aus. Wie sollte er seinem Gegenüber nur erklären, daß sie beide noch ein wenig näher miteinander verwandt waren als Zwillinge? „Laß nur – du würdest es doch nicht verstehen.“
„Wie heißen Sie?“
„Wie ich heiße? Oh …“ Oh, oh! Verflixt und zugenäht! Diese Situation war geradezu lächerlich. Er öffnete den Mund und versuchte die Worte ,Bob Wilson’ zu formulieren, gab es aber wieder auf, weil er fühlte, daß dies völlig zwecklos gewesen wäre. Wie manch einer vor ihm fand er sich zu einer Lüge gezwungen, weil die Wahrhaft unglaubhaft geklungen hätte. „Nenne mich einfach Joe“, fügte er lahm hinzu.
Bei seinem letzten Wort überlief es ihn siedendheiß – er erkannte plötzlich, daß er wirklich ,Joe’ war, derselbe Joe, dem er schon einmal begegnet war. Daß er in seinem Zimmer zu genau derselben Zeit gelandet war, als er an seiner Examensarbeit zu schreiben aufgehört hatte, war ihm bereits aufgegangen, aber er hatte bislang keine Zeit gehabt, die Sache völlig zu Ende zu denken. Als er sich jetzt aber Joe nennen hörte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht: dies war nicht einfach eine ähnliche Szene, sondern dieselbe Szene, die er schon einmal erlebt hatte – nur sah er sie jetzt von einem anderen Blickpunkt aus.
Zumindest hielt er es für dieselbe Szene. War sie denn in irgendeiner Beziehung anders? Er konnte es nicht mit Sicherheit wissen, denn es war ihm unmöglich, sich Wort für Wort an die erste Unterhaltung zu erinnern.
Für eine vollständige Aufzeichnung der Szene, die nur in seiner Erinnerung vorhanden war, hätte er jetzt liebend gern fünfundzwanzig Dollar, plus Verkaufssteuer, gezahlt.
Halt – dachte er weiter –, ich befinde mich nicht unter Hypnose. Wenigstens das weiß ich ganz sicher. Alles, was ich tue und sage, ist das Ergebnis meines eigenen freien Willens. Wenn ich mich auch nicht an den genauen Wortlaut unserer Unterhaltung erinnern kann, so weiß ich doch, was Joe bestimmt nicht gesagt hat; ,Mary hat ein kleines Lamm’ zum Beispiel. Ich werde jetzt einen Kinderreim zitieren und damit von dieser verdammten Tretmühle abspringen. Er öffnete seinen Mund …
„O.K. – Joe. Wie du auch heißen magst, heraus mit deiner Erklärung, und ein bißchen rasch, wenn ich bitten darf!“ bemerkte sein Gegenüber, indem er das Glas hinstellte, das bis vor kurzem noch einen Achtelliter Gin enthalten hatte.
Er öffnete wieder seinen Mund, um die Frage zu beantworten, schloß ihn jedoch sofort wieder. Ruhig, Junge, ruhig, sagte er zu sich selbst; du bist ein freier Mann. Du willst einen Kinderreim zitieren – also los, fang an. Antworte ihm nicht; fang an und tu’s – spreng diesen Circulus vitiosus.
Aber unter dem unfreundlichen, argwöhnischen Blick seines zweiten Ichs konnte er sich plötzlich an überhaupt keinen Kinderreim mehr erinnern. Sein Denkapparat war an einem toten Punkt angelangt. Er kapitulierte.
„Aber gern. Das Dingsda, durch das ich gekommen bin – ist ein Tor zur Zeit.“
„Ein was?“
„Ein Tor zur Zeit. Die Zeit fließt in nebeneinanderliegenden Schichten an jeder Seite des Tores vorbei …“ Er fühlte, wie ihm während des Sprechens der Schweiß ausbrach; er war ziemlich sicher, daß er genau dieselben Worte benutzte, mit denen ihm selbst diese Erklärung schon einmal geboten worden war. „… in die Zukunft spazieren, indem du einfach durch diesen Kreis steigst.“ Er machte eine Pause und wischte sich die Stirn.
„Erzähl nur weiter“, forderte der andere ihn unerbittlich auf. „Ich höre zu. Es ist eine hübsche Geschichte.“
Bob begann sich plötzlich zu fragen, ob dieser andere Kerl wirklich er selbst sein konnte. Die dumme, arrogante und dogmatische Einstellung des Mannes machte ihn rasend. Na schön! Er würde es ihm schon zeigen! Er stand auf, ging
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