Science Fiction Anthologie Band 4 - Die Vierziger Jahre 2
Menschlichkeit waren, das Produkt also einer scharfen Beobachtung der Natur
des Menschen. Die Artikel andererseits waren logisch
durchdacht und deuteten auf gründliche Studien und Recherchen hin. Offensichtlich las Tim einige Zeitungen von
Anfang bis Ende und dazu noch ein gutes Dutzend Monatsschriften.
„Oh, sicher“, sagte Tim, als er ihn danach befragte. „Ich
lese alles. Hin und wieder lese ich sogar alte Zeitschriften
ein zweitesmal.“
„Wenn du so schreiben kannst“, fragte Welles und deutete auf ein Magazin, in dem ein durchaus wissenschaftlicher
und eher konservativer Artikel erschienen war, „und so“ –
das war ein politischer Artikel mit Argumenten für und gegen eine Änderung im ganzen Kongreßsystem –, „warum
redest du dann mit mir immer in der Sprache eines ganz
gewöhnlichen, dummen Schuljungen?“
„Weil ich nur ein kleiner Junge bin“, erwiderte Timothy.
„Was würde denn passieren, wenn ich herumlaufen würde
und so reden?“
„Bei mir könntest du es doch riskieren. Mir hast du ja
diese Dinge gezeigt.“
„Ich würde es nie wagen, so zu reden. Ich könnte mich
vergessen und es vor anderen auch tun. Außerdem kann ich
die Hälfte der Worte gar nicht richtig aussprechen.“ „Was?“
„Ich sehe nie nach, wie ein Wort ausgesprochen wird“,
erklärte Timothy. „Falls ich doch einmal unvorsichtig bin
und ein Wort benutze, das über den Durchschnitt hinausgeht, kann ich immer noch hoffen, daß ich es falsch ausspreche.“
Welles lachte schallend, war aber gleich wieder ernst, als
ihm klar wurde, welche profunde Überlegung dahinter
stand.
„Du bist wie ein Forscher, der unter Wilden lebt“, sagte
der Psychiater. „Du hast die Wilden sorgfältig studiert und
versucht, sie nachzuahmen, damit sie nicht merken, daß es
Unterschiede gibt.“
„So etwas ähnliches“, nickte Tim.
„Deshalb sind deine Kurzgeschichten auch so menschlich warm“, sagte Welles. „Die eine über das schreckliche
kleine Mädchen …“
Sie lachten beide.
„Ja, das war meine erste Geschichte“, sagte Tim. „Ich
war beinahe acht, und da war ein Junge in meiner Klasse,
der einen Bruder hatte, und der Junge nebenan war der andere, der, über den sich alle immer lustig machten.“ „Wieviel von der Geschichte war denn wahr?“ „Der erste Teil. Immer wenn ich bei Ihnen war, sah ich,
wie dieses Mädchen sich über den Freund von Bills Bruder, Steve, lustig machte. Sie sollte die ganze Zeit selbst mit Steve spielen, und jedesmal, wenn er Jungen bei sich hatte, tat sie irgend etwas Schlimmes. Und Steves Eltern waren genauso, wie ich es beschrieben habe – sie ließen einfach nicht zu, daß Steve einem Mädchen etwas tat. Wenn sie Wassermelonenabfälle über den Hof in seinen Garten warf, mußte er sie alle aufheben und durfte nichts sagen; und sie lachte ihn über den Zaun aus. Er bekam dauernd die Schuld für Dinge zugeschoben, die er gar nicht getan hatte, und wenn er dann zur Strafe im Garten arbeiten mußte, hing sie im Fenster und verspottete ihn. Ich überlegte zuerst, weshalb sie sich wohl so verhielt, und dann überlegte ich mir, wie er sich wohl an ihr rächen könnte, und
dann schrieb ich es so auf, wie es hätte passieren können.“ „Steve hast du die Idee nicht erzählt, damit er sie ausprobiert?“
„Aber nein! Ich war doch nur ein kleiner Junge. Siebenjährige geben Zehnjährigen keine Ratschläge. Das ist das
erste, was ich lernen mußte – immer derjenige zu sein, der
stillhielt, besonders wenn ältere Jungen oder Mädchen in
der Nähe waren, auch wenn sie nur ein oder zwei Jahre älter
sein mochten. Ich mußte lernen, sie ausdruckslos anzusehen und den Mund offenstehen zu lassen und zu sagen:
,Das verstehe ich nicht.’“
„Und Miß Page dachte, es sei seltsam, daß du keine
gleichaltrigen Freunde hättest“, sagte Welles. „Du mußt
der einsamste Junge sein, den es auf der Welt gibt. Du hast
wie ein Verbrecher im Versteck gelebt. Aber sag mir doch,
wovor hast du denn Angst?“
„Davor, daß man mich entdeckt, natürlich. Ich kann in
dieser Welt nur in Verkleidung leben – zumindest bis ich erwachsen bin. Zuerst haben mich nur meine Großeltern gescholten und gesagt, ich solle nicht prahlen, und dann lachten die Leute immer, wenn ich versuchte, mit ihnen zu reden. Und dann merkte ich, wie die Leute jeden hassen, der besser oder intelligenter oder glücklicher ist als sie. Manche Leute gleichen das irgendwie aus; wenn man in einer Sache schwach ist, ist man in einer anderen gut.
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