Scream
Privatpraxis. Auf dem Schreibtisch herrschte das reinste Chaos. Zwischen den Seiten eines dicken, abgegriffenen Terminplaners klebten unzählige Notizzettel und Fetzen von Papier, und der Kalender war über und über mit Namen und Daten bekritzelt. Therapieprotokolle, mit unleserlicher Handschrift auf gelbe Blätter geschmiert, lagen wild durcheinander, und der metallene Karteischrank in der Ecke war so vollgestopft mit zerfledderten Akten, fleckigen Fachzeitschriften, Rezeptblocks und zerknüllten Papiertaschentüchern, dass er wie eine Mülltonne aussah.
Gardner war vielleicht Millionär, seine Villa entsprechend teuer und seine Garderobe vom Feinsten, in seinem Berufsleben aber schien er völlig unorganisiert zu sein, ja geradezu chaotisch.
Eine Putzfrau würde diesen Schreibtisch nicht aufgeräumt haben, schon gar nicht die Schubladen. Dafür hatte jemand anders gesorgt.
Was bedeutet, dass der Patient, als er in geheimen Dateien herumgeschnüffelt und entdeckt hat, dass das FBI involviert ist, sehr wohl wusste, dass wir früher oder später nach ihm suchen würden. Also hat er gründlich sauber gemacht, um Spuren zu verwischen.
Aber so funktionierte das nicht. Wer einen Raum betrat, sich auf einen Stuhl setzte und Gegenstände berührte, mochte noch so vorsichtig sein; er hinterließ trotzdem Spuren. Der modernen Kriminaltechnik entging in dieser Hinsicht so gut wie nichts.
Munn stellte seinen Koffer auf der Sitzfläche des Schreibtischsessels ab und wollte sich gerade an die Arbeit machen, als ihm etwas auffiel. Auf der Sessellehne befanden sich winzige weiße Flocken wie Sprenkel abgeblätterter Farbe. Er tupfte mit dem Finger der in Gummi gehüllten Hand darauf und betrachtete die Flocken von nahem.
Es war kein Farbrest. Am Rand zeigten sich mikroskopisch kleine Härchen, dünn wie Zellulosefasern. Er schaute nach oben und blickte unter eine abgehängte Decke aus rechteckigen weißen Platten. Waren die Flocken von dort herab gerieselt? Vielleicht hatte sich jemand von der Haus Wartung an der Decke zu schaffen gemacht, um irgendwelche Installationen zu überprüfen. Wenn aber einzelne Platten herausgenommen und wieder eingesetzt worden wären, würden der Schreibtisch und alles ringsum voller Staub sein.
Munn seufzte und schaute sich um. Dann richtete er den Blick wieder zur Decke. Um sie erreichen zu können, musste er auf den Schreibtisch steigen, was er aber seinen Knien nur ungern zumuten mochte, die, schon zu seiner Zeit als Footballspieler in der Highschool arg in Mitleidenschaft gezogen, jetzt, da er fast fünfzig war, auf Schritt und Tritt wehtaten. Es dauerte fast eine volle Minute, bis er endlich unter starken Schmerzen den Schreibtisch bestiegen hatte. Er richtete sich auf, berührte die Platte mit den Fingerspitzen und hob sie aus ihrem Metallrahmen.
Weiße Sprenkel rieselten wie Schnee auf ihn herab.
Er griff in seine Jackentasche und nahm eine kleine Stableuchte zur Hand. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten, und er ärgerte sich darüber, dass selbst diese kleine Anstrengung ihm schon zu viel wurde. Auf Zehenspitzen konnte er gerade eben über den Deckenrand hinwegsehen. Vorsichtig hob er die Stableuchte. Der gebündelte Lichtstrahl streifte Metallbänder, Holzstreben und Belüftungsschächte. Zwischen einem der Schächte und einem diagonal verlaufenden Metallband entdeckte er einen kleinen rechteckigen Bildschirm.
Gardners Laptop.
Nein. Das kann nicht sein. Vielleicht gehört das Ding zum Computersystem des Hauses. Hier ist schließlich alles computerisiert.
Um besser sehen zu können, reckte sich Munn so hoch er konnte. Seine angespannten Waden drohten unter seinem Gewicht zu verkrampfen. Komm schon, Henry, beiß die Zähne zusammen und streng dich an. Im Schein der Stableuchte sah er die winzige Kamera am Rand des Laptops – das Gerät zur Netzhauterkennung. Gleich daneben befand sich der kleine Kasten für die Key Card, mit der Gardner seinen Laptop aktivierte.
Es war also doch der gesuchte Rechner.
Aber wie kommt er hierhin?
Das war natürlich die große Frage.
Seine Waden brannten, die Muskeln machten schlapp. Munn zog die Stableuchte zurück und wollte gerade die Beine entlasten, als er mitten auf dem Bildschirm etwas aufleuchten sah.
Nein. Nein, das kann nicht sein, dachte er. Auf dem Schirm ist nichts. Gardner wird seit neun Wochen vermisst. So lange hält kein Akku.
Es sei denn, der Laptop hing am Netz. So musste es sein, etwas anderes ergab keinen Sinn.
Aber
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