Scriptum
denn je. Millionen Menschen hätten
nicht sinnlos sterben müssen. Keine Inquisition, kein Holocaust, keine Kriege auf dem Balkan oder im Nahen Osten, keine Flugzeuge,
die in Wolkenkratzer stürzen …» Ein Grinsen zuckte über sein Gesicht. «Vermutlich wären Sie arbeitslos, Agent Reilly.»
Reilly überlegte fieberhaft, was die Enthüllungen bedeuteten. Ihm fiel ein, wie er mit Tess über die neun Jahre gesprochen
hatte, die die Ritter abgeschieden im Tempel verbrachten, über ihren raschen Aufstieg zu Macht und Reichtum und die lateinische
Inschrift.
Veritas vos liberabit.
Die Wahrheit wird euch frei machen.
Er schaute zu Vance. «Sie glauben, die Kirche wurde erpresst. Sie glauben, der Vatikan ließ zu, dass die Templer auf seine
Kosten mächtig wurden.»
«Der Vatikan war vor Angst wie von Sinnen. Ihm blieb keine Wahl.»
«Warum?»
Vance trat näher, betastete das Kreuz, das im Ausschnitt von Reillys Taucheranzug hing, und riss es abrupt herunter. Er ließ
die Kette von seiner Hand baumeln und betrachtete den Anhänger mit eisigem Blick.
«Aus Angst vor der Wahrheit über dieses Märchen.»
KAPITEL 63
Die Worte hingen über ihnen wie das Fallbeil einer Guillotine.
Vance’ Augen schienen ein Eigenleben zu entwickeln, als sie den Gegenstand in seiner Handfläche anfunkelten. Dann fiel ein
Schatten über sein Gesicht. «Erstaunlich, was? Hier stehen wir nun zweitausend Jahre später mit all unseren Leistungen, all
unserem Wissen, und doch beherrscht dieser kleine
Talisman
noch immer das Leben von Millionen Menschen … und ihren Tod.»
Reilly schauderte in seinem feuchten Neoprenanzug. Dann warf er einen Blick zu Tess. Sie schaute Vance atemlos an.
«Woher wissen Sie das?», fragte sie.
Vance löste sich unwillig von dem Kreuz. «Sie kennen Hugues de Payens, den Gründer der Templer. Als ich in Südfrankreich war,
fand ich etwas über ihn heraus, das mich überraschte.»
Sie erinnerte sich an die verächtlichen Kommentare des französischen Historikers. «Dass er aus dem Languedoc stammte – und
ein Katharer war?»
Vance’ Augenbrauen zuckten in die Höhe, und er neigte beifällig den Kopf. «Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.»
«Aber es ergibt keinen Sinn», konterte Tess. «Die Templer sind doch überhaupt nur losgezogen, um christliche Pilger zu beschützen.»
Vance lächelte weiter, doch seine Stimme klang schärfer als zuvor. «Sie waren in einer Mission unterwegs, um etwas wieder
zu finden, das seit tausend Jahren als verloren galt. Etwas, das die Hohepriester vor den Legionen des Titus versteckt hatten.
Also gaben sie sich als felsenfeste Anhänger des Papstes und seines schlecht geplanten Kreuzzugs aus. Konnte es eine bessere
Tarnung und damit einen besseren Zugang zu dem Ort geben, an dem sie interessiert waren? Sie wollten die Kirche ja nicht blindlings
bekämpfen; erst mussten sie genügend Macht und Reichtum erlangen, um dieses unglaubliche Wagnis bestehen zu können. Der Vatikan
war seit langem dafür bekannt, dass er jeglichen Zweifel an dem einen und wahren Glauben erbarmungslos unterdrückte. Die Armeen
des Papstes massakrierten ganze Dörfer samt Frauen und Kindern, weil sie es gewagt hatten, ihren eigenen Überzeugungen zu
folgen. Um die Kirche zu stürzen, brauchte es Waffen und politischen Einfluss. Und die Templer hätten es beinahe geschafft.
Sie fanden, wonach sie suchten. Sie gewannen enorme militärische Macht und ungeheuren politischen Einfluss und standen kurz
davor, sich zu ihren spirituellen Überzeugungen zu bekennen. Allerdings hatten sie nicht damit gerechnet, dass noch vor ihrem
Angriff auf die Kirche nicht nur sie selbst, sondern alle christlichen Armeen aus dem Heiligen Land vertrieben würden. Mit
der Niederlage von Akkon 1291 büßten sie ihre Machtbasis ein, ihre Burgen, die Armee, die beherrschende Stellung in Outremer.
Und als die
Faucon du Temple
sank, verloren sie auch noch ihr Trumpfass – die Waffe, die es ihnen erlaubthatte, den Vatikan zweihundert Jahre lang zu erpressen, den Gegenstand, der es ihnen ermöglichen sollte, ihr Schicksal zu
erfüllen. Von da an war es nur eine Frage der Zeit, bis sie völlig vernichtet waren.» Er nickte leicht und richtete seinen
glühenden Blick erneut auf Tess und Reilly. «Erst jetzt können wir mit ein wenig Glück ihr Werk vollenden.»
Plötzlich zerriss ein entsetzlicher Knall die Stille. Der Kopf des massigen Türken zerbarst, eine unsichtbare Hand
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