Scudders Spiel
überlegte einen Augenblick lang. »Ich auch.«
Sie blieben noch eine Weile länger und genossen die Aussicht auf Essen. Dann standen sie auf und plünderten gemeinsam die Küche. Darauf gingen sie wieder zu Bett ließen sich von der gleichen Welle emportragen, fanden die gleiche glänzende, ungetrübte Einheit und schliefen endlich ein.
Den Huppelsender ließen sie unbeachtet irgendwo im zerwühlten Bettzeug – was nicht mehr als recht und billig war: nicht einmal CH-International hätte behauptet, daß sie Selbstvervollkommnung verkaufe. Die myoelektrische Technik vermochte einiges, aber Selbstvervollkommnung war Sache des Selbst.
Nein, CH-International war nicht großsprecherisch – im Einklang mit den Bestimmungen des Handelsrechts offerierte sie ganz einfach sinnverwirrende körperliche Wonnen und Entzücken jenseits aller lüsternen Träume: mit einem Wort, daß größte Vergnügen der Welt.
Und weil das größte Vergnügen der Welt in den 90er Jahren genau das gewesen war, wonach die Leute Ausschau gehalten hatten, war CH-International in einen ungeahnten Aufwind geraten.
Verantwortungsbewußtsein galt nichts mehr. Es wurde von einer genußsüchtigen Welt als grausame Falle gesehen, als Eingriff in die persönliche Freiheit, als etwas, das zusammen mit der Würde der Arbeit erfunden worden war, um eine Gesellschaftsordnung am Leben zu erhalten, die in rascher Auflösung begriffen war. So wurde eine fünfte Freiheit geboren: Freiheit von Verantwortlichkeit.
Es war eine gefährliche Freiheit, auf die niemand recht vorbereitet war, und die Folge waren Umwälzungen, unter denen alle litten. Am meisten die Kinder, weil sich das Verständnis durchsetzte, daß sie den Männern die Geliebten und den Frauen ihr Eigenleben raubten. Der Konflikt nahm in vielen Fällen den Charakter der Unvereinbarkeit an: Kinder oder soziale und berufliche Gleichheit; Kinder oder Selbsterfüllung. Die Ehe, einst eine Einrichtung zur Vermögensbildung, wurde zu ihrer sozialen Rechtfertigung immer mehr abhängig von der Kinderaufzucht und geriet dadurch trotz aller Aufwertungsversuche konservativer Regierungen mehr und mehr in Mißkredit. Eine ständig wachsende Zahl von Menschen sah in ihr eine Bürde, die sie weder tragen konnten noch wollten.
Noch grundlegender war, daß das Identitätsgefühl, welches der Besitz von Kindern den Eltern einst verschafft hatte, nun, in den 70er und 80er Jahren aus allen möglichen anderen, weniger beanspruchenden Besitztümern bezogen werden konnte. Darüber hinaus war das Bewußtsein der Kontinuität, das Kinder boten, in einer von atomaren und ökologischen Katastrophen bedrohten Welt fragwürdig geworden. Schließlich bewirkten Werbung und Mode im kapitalistischen Westen eine unnatürliche Bewußtseinsveränderung: Jugendlichkeit war das Ideal, die Reife des Erwachsenen wurde ertragen, das Alter säuberlich aus dem Blickfeld entfernt, der Tod zum Tabu gemacht. Kinder gerieten so in den Brennpunkt einer westlichen Zivilisationsneurose: erwünscht, wenn sie erwünscht wären, und dann meist aus den falschen Gründen, und geliebt, wenn sie geliebt wurden, allzu oft aus einer unbehaglichen Mischung von animalischem Wärmebedürfnis und Schuldgefühl.
Gegen diese Situation verteidigten die Kinder sich, so gut sie konnten, meistens mit einer manipulatorischen und letzten Endes das eigene Bemühen zunichte machenden Schlauheit. In dem Bewußtsein, daß sie ungeliebt waren, wurden sie unausweichlich unliebenswürdig. Umarme heute ein Kind, baten die Autoaufkleber und die Kluft zwischen den Generationen wurde volljährig: an einem Ende der Skala mißhandelte Säuglinge; am anderen mißhandelte Eltern. Und dies alles inmitten einer katastrophenhaften Bevölkerungsexplosion, die bereits eine Anzahl schwerer Krisen ausgelöst hatte: eine Energiekrise, eine Umweltkrise, eine Unterbeschäftigungskrise, eine monetäre Krise und eine internationale politische Krise.
So war der historische Augenblick günstig gewesen. Als in dieser Situation ein positiver, ja, geradezu ekstatischer Anreiz geboten wurde, mit eben den Verhaltensweisen, die zuvor zur verhängnisvollen Bevölkerungsexplosion geführt hatten, nun deren Gegenteil zu erreichen, war abzusehen, daß die Menschen davon Gebrauch machen würden. Daher der Erfolg der CH-International. Sie stellte angesichts schwärzester Zukunftsperspektiven ein Gegenmittel bereit, daß der Vergnügungssucht und Verantwortungslosigkeit Rechnung trug. Und mit der
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