SdG 05 - Der Tag des Sehers
nicht rufen … rufen …
Wen?
Einst habe ich meine Hand auf ihre bepelzte Schulter gelegt. Dicht unter dem Nacken. Damals waren wir noch nicht erwacht, sie und ich. So nah beieinander, sind wir im Gleichschritt gewandert, aber noch nicht erwacht … welch tragische Unwissenheit. Doch sie hat mir ihre irdischen Visionen geschenkt, ihre einzige Geschichte – so, wie sie sie gekannt hat, während tief in ihrem Herzen …
… meine Liebste geschlafen hat.
»Heiliger, sollte er wieder der Umarmung Eurer Mutter übergeben werden, wird ihn das umbringen – «
»Du wagst es, mir Anweisungen zu erteilen?«, zischte der Seher. In seiner Stimme war ein Zittern.
»Ich befehle nicht, Heiliger. Ich habe nur eine Tatsache festgestellt.«
»Ultentha! Teuerster Septarch, tritt vor! Ja, schau dir diesen Mann zu Füßen deines Domänensers an. Was denkst du?«
»Heiliger«, ließ sich eine neue, sanftere Stimme vernehmen, »mein höchst vertrauenswürdiger Diener spricht die Wahrheit. Die Knochen dieses Mannes sind so verdreht – «
»Ich kann es sehen!«, kreischte der Seher.
»Heiliger«, fuhr der Septarch fort, »erlöse ihn von seinem Grauen.«
»Nein! Das werde ich nicht tun! Er gehört mir! Er gehört meiner Mutter! Sie braucht ihn – sie braucht jemanden, den sie festhalten kann – sie braucht ihn!«
»Ihre Liebe erweist sich als tödlich«, wandte der Domänenser ruhig ein.
»Ihr bietet mir alle beide die Stirn? Soll ich meine Geflügelten zusammenrufen? Um Euch ins Vergessen zu schicken? Damit sie sich darum streiten und zanken können, was von euch noch übrig sein wird? Ja? Soll ich das tun?«
»Wie es dem Heiligen beliebt.«
»Ja, Ultentha! Ganz genau! Wie es mir beliebt!«
Der Domänenser meldete sich wieder zu Wort. »Soll ich ihn also zur Matrone zurückbringen, Heiliger?«
»Noch nicht. Lass ihn da. Sein Anblick erheitert mich. Und jetzt erstatte deinen Bericht, Ultentha.«
»Die Gräben sind fertig, Heiliger. Die Feinde werden durch die Niederungen zur Stadtmauer vorrücken. Sie werden keine Kundschafter zu dem bewaldeten Kamm zu ihrer Rechten schicken – darauf verwette ich meine Seele.«
»Das hast du schon getan, Ultentha, das hast du schon getan. Und was ist mit diesen verdammten Großen Raben? Wenn auch nur einer von ihnen etwas gesehen hat …«
»Eure Geflügelten haben sie vertrieben, Heiliger. Die Himmel sind frei, die Aufklärungsversuche des Feindes sind so vereitelt worden. Wir werden ihnen erlauben, in den Niederungen ihr Lager aufzuschlagen, dann werden wir uns aus unserer verborgenen Position erheben und uns auf ihre Flanke stürzen. Zusammen mit dem gleichzeitigen Angriff des Magierkaders von den Stadtmauern und dem der Geflügelten vom Himmel aus und zusätzlich noch Septarch Inals Ausfall aus den Stadttoren – Heiliger, der Sieg wird unser sein.«
»Ich will Caladan Bruth. Ich will seinen Hammer, will ihn in meinen Händen halten.
Ich will, dass die Malazaner ausgelöscht werden. Ich will, dass die Götter der Barghast zu meinen Füßen kriechen. Aber vor allem will ich die Grauen Schwerter! Habt ihr verstanden? Ich will diesen Mann, Itkovian – dann habe ich einen Ersatz für meine Mutter. Hört also gut zu. Wenn ihr Gnade für Toc den Jüngeren wollt. bringt mir Itkovian. Lebendig.«
»Es wird geschehen, wie es Euer Wille ist, Heiliger«, sagte Septarch Ultentha.
Es wird geschehen, wie es sein Wille ist. Er ist mein Gott. Was er will. Alles, was er will. Der Wolf kann nicht atmen. Der Wolf liegt im Sterben.
Er – wir liegen im Sterben.
»Und wo ist der Feind jetzt, Ultentha?«
»Sie haben sich wirklich aufgeteilt, vor zwei Tagen, nachdem sie den Fluss überquert haben.«
»Aber wissen sie schon, dass die Städte, auf die sie zumarschieren, tot sind?«
»Das müssten ihnen ihre Großen Raben mittlerweile berichtet haben, Heiliger.«
»Was haben sie dann vor?«
»Wir sind uns nicht sicher. Eure Geflügelten wagen es nicht, sich ihnen zu sehr zu nähern – ich glaube, ihre Anwesenheit ist noch nicht bemerkt worden, und es sollte am besten so bleiben.«
»Einverstanden. Nun, vielleicht argwöhnen sie, dass wir Fallen aufgestellt haben – verborgene Truppen oder so was –, und fürchten einen Überraschungsangriff von hinten, wenn sie die Städte einfach nicht beachten.«
»Ihre Vorsicht gewährt uns mehr Zeit, Heiliger.«
»Sie sind Narren, aufgeblasen von ihrem Sieg in Capustan.«
»In der Tat, Heiliger. Für den sie teuer bezahlen werden.«
Jeder
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