SdG 05 - Der Tag des Sehers
allen Seiten bestürmten, wollte es nicht brennen.
Es konnte nicht brennen. Denn – wie er nun im Schein der ringsum flackernden Feuer sah – die Wände weinten.
Kein Wasser, sondern Blut.
Buke flog eine Kurve und hielt auf das Gebäude zu, und je näher er ihm kam, desto größer wurde sein Entsetzen. Er konnte Fenster sehen, ohne Läden, auf der Höhe des ersten sichtbaren Geschosses. Voll gestopft mit Leichen. Das Gleiche auf dem nächsten Stockwerk, und auch auf dem darüber, direkt unter dem Dach.
Das ganze Gebäude war, wie ihm jetzt klar wurde, im wahrsten Sinne des Wortes massiv. Eine Masse aus Fleisch und Knochen, aus deren Fensteröffnungen Tränen aus Blut und Galle rannen. Ein gigantisches Mausoleum, ein Monument dieses Tages.
Er sah Gestalten auf dem Dach. Ein Dutzend, die sich hier und da unter behelfsmäßige Planen und Schutzhütten kauerten. Und einen, der ein bisschen abseits stand, den Kopf geneigt, als beobachte er das Grauen unten auf der Straße. Groß, ungeschlacht. Mit breiten, abfallenden Schultern. Von merkwürdigen streifigen Schatten gezeichnet. In den beiden gepanzerten Händen hing jeweils schwer eine Machete, blank und glänzend wie ein Knochen.
Ein Dutzend Schritte hinter ihm war eine Standarte aufgepflanzt worden; sie wurde von Bündeln aufrecht gehalten, die möglicherweise Essenspakete waren, wie die Grauen Schwerter sie ausgegeben hatten. Durchnässt, gelb, mit dunklen Blutstreifen befleckt – die Tunika eines Kindes.
Buke flog noch ein bisschen näher und drehte dann ab. Er war nicht bereit. Nicht für Grantl. Nicht für den Mann, der der Karawanenführer jetzt war, der er geworden war. Eine schreckliche Verwandlung … ein weiteres Opfer dieser Belagerung.
Wie wir alle.
Blinzelnd versuchte Itkovian, sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. Eine niedrige, feuchte Decke, der Geruch von rohem Fleisch. Gelbes Laternenlicht, das Gewicht einer groben Wolldecke auf seiner Brust. Er lag auf einem schmalen Feldbett, und jemand hielt seine Hand.
Langsam drehte er den Kopf, zuckte zusammen, als die Bewegung eine Feuerlanze aus Schmerz durch seinen Nacken sandte. Geheilt und doch nicht geheilt. Die Genesung … unvollständig …
Karnadas hockte an seiner Seite, zusammengesunken und reglos, sein blasser, runzliger, nach vorn gebeugter Schädel auf der Höhe von Itkovians Augen.
Die Hand, die die seine hielt, war nur noch tödlich trockene Haut und Knochen – und eiskalt.
Der Schild-Amboss drückte sie leicht.
Das Gesicht des Destriant, das er jetzt hob, glich einem Totenschädel, die Haut war mit dunklen Flecken gesprenkelt, die von seinen Kiefergelenken ausgingen; seine rot geäderten Augen lagen tief in pechschwarzen Augenhöhlen.
»Ach«, krächzte der alte Mann, »ich habe Euch enttäuscht, mein Herr …«
»Das habt Ihr nicht.«
»Eure Wunden – «
»Das Fleisch ist geheilt – das kann ich spüren. Mein Nacken, mein Rücken, mein Knie. Ich fühle nur noch eine gewisse Empfindlichkeit, mein Herr. Mit der ist leicht umzugehen.« Er setzte sich langsam auf, zeigte trotz der Agonie, die ihn durchzuckte, eine ruhige Miene. Als er das Knie beugte, war er anschließend in Schweiß gebadet, fröstelte plötzlich und fühlte sich schwindelig. Doch er ließ die Hand des Destriant nicht los. »Euer Geschenk beschämt mich jedes Mal, mein Herr.«
Karnadas ließ den Kopf auf Itkovians Oberschenkel sinken. »Ich bin am Ende, mein Freund«, flüsterte er.
»Ich weiß«, erwiderte der Schild-Amboss. »Aber ich noch nicht.«
Der Destriant nickte schwach, blickte jedoch nicht auf.
Itkovian schaute sich um. Vier andere Feldbetten, auf jedem lag ein Soldat. Grobe Decken waren über ihre Gesichter gezogen worden. Zwei der Feldschern des Priesters saßen auf dem vom Blut klebrigen Fußboden, den Rücken an eine Mauer gelehnt, die Augen geschlossen; sie schliefen den Schlaf der Erschöpften. Neben der Tür des kleinen Raums stand eine Botin der Grauen Schwerter, nach den Gesichtszügen unter dem Helmrand zu urteilen eine Capan. Unter den Rekruten hatte er eine jüngere Version von ihr gesehen … vielleicht ihre Schwester. »Wie lange war ich bewusstlos? Ist das Regen, was ich da höre?«
Karnadas antwortete nicht. Auch von den beiden Feldschern wurde keiner wach. Nach einem Augenblick räusperte sich die Botin. »Herr, es ist weniger als einen Glockenschlag vor Mitternacht. Der Regen hat bei Einbruch der Dunkelheit eingesetzt.«
Mit dem Einbruch der Dunkelheit und mit dem
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