SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
– noch viel seltsamer sogar als die malazanischen Städte Malyntaeas oder Genabaris. Die Tiefländer waren in dieser Welt so zahlreich wie Ungeziefer – es gab mehr Stämme, als der Teblor je für möglich gehalten hätte, und es war eindeutig, dass keiner den anderen mochte. Während das ein Gefühl war, das Karsa gut verstehen konnte – denn Stämme sollten einander nicht mögen –, war es jedoch ebenso offensichtlich, dass es unter den Tiefländern keinerlei Gefühl für Loyalität gab. Karsa war ein Uryd, doch er war auch ein Teblor. Die Tiefländer schienen so besessen von ihren Unterschieden zu sein, dass sie vergessen hatten, was sie verband.
Eine Schwäche, die sich ausnutzen ließ.
Karsas Führer legte ein rasches Tempo vor, und obwohl die Verletzungen, die er erlitten hatte, mittlerweile zum größten Teil wieder verheilt waren, waren seine Reserven an Kraft und Ausdauer längst nicht mehr das, was sie einst gewesen waren. Nach einiger Zeit begann der Abstand zwischen ihnen größer zu werden, und schließlich stellte Karsa fest, dass er allein durch die undurchdringliche Dunkelheit stapfte. Seine Hand lag an der grob behauenen Wand zu seiner Rechten, und die einzigen Geräusche waren die, die er selbst verursachte. Die Luft war nicht mehr feucht, und er schmeckte Staub auf der Zunge -
Plötzlich verschwand die Wand zu seiner Rechten. Karsa stolperte und blieb stehen.
»Du hast dich gut gehalten«, sagte der Einheimische; er befand sich irgendwo zur Linken des Teblor. »Vornübergebeugt zu rennen, wie du es tun musstest … das war nicht einfach. Sieh nach oben.«
Er tat, wie ihm geheißen, und richtete sich langsam auf. Über ihm funkelten die Sterne.
»Wir sind in einer Wasserrinne«, fuhr der Mann fort. »Bis wir herausklettern können, wird die Morgendämmerung anbrechen. Dann sind es noch fünf, vielleicht auch sechs Tage quer durch die Pan’pot-sun-Odhan. Die Malazaner werden natürlich hinter uns her sein, deshalb müssen wir vorsichtig sein. Ruh dich ein Weilchen aus. Trink ein bisschen Wasser – die Sonne ist ein Dämon und wird dir dein Leben stehlen, wenn sie kann. Unser Weg wird uns von einer Wasserstelle zur nächsten führen, wir werden also keinen Durst leiden müssen.«
»Du kennst dieses Land«, sagte Karsa, »ich nicht.« Er hob sein Schwert. »Aber eines solltest du wissen: Ich werde mich nie wieder gefangen nehmen lassen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, erwiderte der Mann.
»Das habe ich nicht gemeint.«
Der Mann lachte. »Ich weiß. Wenn du willst, kannst du gehen, wo immer du hinwillst, sobald wir aus dieser Wasserrinne heraus sind. Was ich dir angeboten habe, ist deine beste Chance zu überleben. Es gibt noch mehr, worüber man sich in diesem Land Sorgen machen sollte, als nur wieder von den Malazanern gefangen genommen zu werden. Komm mit mir, und du wirst lernen, wie man überlebt. Aber wie ich schon gesagt habe, die Entscheidung liegt bei dir. Wollen wir jetzt weitergehen?«
In der Welt über ihnen brach die Dämmerung an, ehe die beiden Flüchtlinge das Ende der Wasserrinne erreicht hatten. Während sie über sich den klaren blauen Himmel sehen konnten, gingen sie weiter durch kühle Schatten. Ein Haufen übereinander gestürzter Felsbrocken wies ihnen den Weg aus der Rinne; hier hatte in der Vergangenheit eine Flutwelle die Wand ausreichend unterspült, um einen Erdrutsch auszulösen.
Sie kletterten die Schräge hinauf und gelangten in ein von Hitze gepeinigtes Land voller verwitterter Klippen, sandiger Flussbetten, Kakteen und Dornenbüsche. Die Sonne war gleißend hell und ließ die Luft in allen Richtungen flimmern. Niemand war zu sehen, und es gab auch keinerlei Anzeichen, dass hier noch etwas anderes außer wilden Tieren lebte.
Der Tiefländer führte Karsa südwestwärts, wobei sie sich nicht gradlinig bewegten, sondern jede mögliche Form der Deckung nutzten und Kämme oder Hügelkuppen mieden, auf denen sie sich gegen den Horizont abzeichnen würden. Keiner der beiden sprach; sie sparten sich ihren Atem in der kräftezehrenden Hitze, während der Tag sich langsam dahinschleppte.
Spät am Nachmittag blieb der Tiefländer plötzlich stehen und drehte sich um. Er zischte einen Fluch in seiner Muttersprache und sagte dann: »Reiter.«
Karsa drehte sich um, konnte jedoch in der unwirtlichen Landschaft hinter sich niemanden sehen.
»Ich kann das Hufgetrappel im Boden spüren«, murmelte der Mann. »Dann hat Mebra also die Seiten gewechselt.
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