SdG 07 - Das Haus der Ketten
Gesicht hinausschauen, obwohl sie sich unablässig darum bemüht, als könnte ein umfassender Rundblick ihr etwas anderes bieten als das insektengleiche Dahinkriechen der Zeit. Reiche, Throne, Tyrannen und Befreier, hunderttausend dicke Bände, die mit verschiedenen Versionen der gleichen Fragen gefüllt sind, die immer wieder aufs Neue gestellt werden. Werden die Antworten den versprochenen Trost bringen? Ich glaube nicht. Hier, brat dir noch ein Stück, Karsa Orlong, und trink noch etwas Wein – wie du siehst, wird die Karaffe niemals leer. Schlau, was? Nun, wo war ich stehen geblieben?«
»Du kommst nur selten raus.«
»In der Tat. Welch eingebildete Reiche sind jenseits der Jhag-Odhan aufgestiegen, nur um dann wieder unterzugehen? Nichts als Pomp, der am Staub erstickt …«
Karsa kniff die Augen zusammen und starrte auf die Jhag-Odhan hinaus, dann griff er nach dem Wein.
Ein einsamer Baum stand auf der Kuppe eines Hügels, der seinerseits an einen größeren Hügel grenzte. Derart geschützt vor den hier herrschenden Winden war er gewaltig geworden; seine Rinde war dünn und schälte sich, als wäre sie eine Haut, die die vielen Muskeln nicht umspannen konnte. Äste, ungefähr so stark wie Karsas Oberschenkel, strebten von dem wuchtigen, knorrigen Stamm weg. Das obere Drittel war dicht belaubt und bildete breite, flache Baldachine aus staubigem Grün.
»Sieht alt aus, was?«, sagte Cynnigig, während sie den Hang hinaufstiegen; der Jaghut hatte einen schiefen, seitwärts geneigten Gang. »Du hast keine Ahnung, wie alt, mein junger Freund. Keine Ahnung. Ich wage es nicht, dir die Wahrheit über sein Alter zu enthüllen. Hast du so einen Baum schon einmal gesehen? Ich glaube nicht. Vielleicht erinnert er ein wenig an den Guldindha, der hier und da in der Odhan zu finden ist. Er erinnert daran, so wie ein Ranag ein bisschen an eine Ziege erinnert. Es ist mehr als einfach nur eine Frage des Wuchses. Nein, tatsächlich ist es eine Frage des Alters. Dieser Baum ist eine ältere Spezies. Als er ein Schössling war, zischte ein Binnenmeer seine salzigen Seufzer über dieses Land. Du fragst dich, wann das war – vielleicht vor Zehntausenden von Jahren? Nein. Vor Hunderttausenden von Jahren. Einst gab es diese Bäume fast überall auf der Welt, Karsa Orlong. Alle Dinge wissen um ihre Zeit, und wenn diese Zeit vorüber ist, verschwinden sie – «
»Aber der hier ist nicht verschwunden.«
»Eine scharfsinnigere Bemerkung ist wohl kaum möglich. Und nun fragst du dich, warum das so ist?«
»Diese Mühe mache ich mir gar nicht erst, denn du wirst es mir ohnehin erzählen.«
»Natürlich werde ich das, denn ich bin von Natur aus ein hilfsbereites Wesen. Der Grund, warum es diesen Baum immer noch gibt, wird schon bald deutlich werden, mein junger Freund.«
Sie erklommen das letzte Stück des Hangs und kamen auf ebenen Grund, der ewig im Schatten des Laubdachs lag, so dass dort keinerlei Gras wuchs. Der Baum selbst war – wie Karsa jetzt sah – mitsamt all seinen Zweigen vollkommen von Spinnennetzen eingehüllt, die irgendwie vollständig durchsichtig blieben, ganz egal, wie dicht sie gewoben waren, und die überhaupt nur dadurch sichtbar wurden, dass sie das Sonnenlicht schwach und flackernd zurückwarfen. Und unter diesem glänzenden Leichentuch starrte ihn das Gesicht einer Jaghut an.
»Phyrlis«, sagte Cynnigig, »das ist derjenige, von dem Aramala gesprochen hat – derjenige, der ein Pferd sucht, das zu ihm passt.«
Der Körper der Jaghut war hier und da noch sichtbar, was bewies, dass der Baum tatsächlich um sie herum gewachsen war. Doch ein einzelner hölzerner Spross wuchs von einem Fleck gleich hinter ihrem rechten Schlüsselbein in die Höhe und vereinigte sich seitlich von ihrem Kopf wieder mit dem Hauptstamm.
»Soll ich ihm deine Geschichte erzählen, Phyrlis? Aber natürlich, ich muss es sogar, und sei es nur, weil sie so bemerkenswert ist.«
Ihre Stimme kam nicht aus ihrem Mund, sondern erklang fließend und sanft in Karsas Kopf. »Aber natürlich musst du das, Cynnigig. Es ist deine Natur, kein Wort ungesagt zu lassen.«
Karsa lächelte, denn in ihrem Tonfall schwang so viel Zuneigung mit, dass sie den Worten jede Spitze nahm.
»Mein Thelomen Toblakai Freund, es ist eine höchst außergewöhnliche Geschichte, für die es keine wirkliche Erklärung gibt«, begann Cynnigig, während er sich mit überkreuzten Beinen auf den steinigen Boden setzte. »Die liebe Phyrlis war noch ein Kind –
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