SdG 08 - Kinder des Schattens
Die Einverleibung der Tiste Edur und ihrer reichen Heimatlande würde tatsächlich neue Lebenskraft erblühen lassen und eine Zeit hektischer Gewinne nach sich ziehen. Der Sieg an sich würde die Rechtschaffenheit Lethers und seiner Lebensweise bestätigen.
Brys tauchte aus dem Zweiten Flügel auf und machte sich auf den Weg hinunter zum Schmalen Kanal. Es war später Vormittag, fast schon Mittag. Zu Beginn dieses Tages hatte er mit den anderen Palastwachen, die dienstfrei hatten, auf dem Gelände hinter den Truppenunterkünften geübt, dann auf der Terasse eines Wirtshauses am Quillas-Kanal gefrühstückt. Er war dankbar für diese kurze Zeit des Alleinseins gewesen, obwohl seine Abwesenheit vom Palast – die nur gestattet worden war, weil der König die Gemächer der Ersten Konkubine aufgesucht hatte und nicht vor dem Nachmittag zurück erwartet wurde – wie ein unsichtbarer Haltestrick war, der sich mehr und mehr anspannte, bis er sich schließlich genötigt fühlte, wieder zu seinen Pflichten zurückzukehren, indem er das Ewige Domizil aufsuchte und nachsah, ob es irgendeinen Fortschritt gab. Dann ging es zurück zum alten Palast.
Wo er – nachdem er das Haupttor durchschritten und die Große Halle betreten hatte – mitten in einen Aufruhr geriet.
Mit wild hämmerndem Herzen trat Brys zum nächsten Wächter. »Korporal, was ist geschehen?«
Der Soldat salutierte. »Ich bin mir nicht sicher, Finadd. Neuigkeiten aus Trate, vermute ich. Die Edur haben ein paar Seeleute aus Lether abgeschlachtet. Mit übelster Zauberei.«
»Was ist mit dem König?«
»Der hat eine Ratsversammlung einberufen – in zwei Glockenschlägen.«
»Danke, Korporal.«
Brys marschierte tiefer in den Palast hinein, in Richtung der inneren Gemächer. Irgendwo zwischen all den Gefolgsleuten und Boten, die den Hauptkorridor entlangeilten, sah er Kanzler Triban Gnol bei einer Handvoll seiner Anhänger stehen; die Unterhaltung wurde zwar leise geführt, war jedoch überaus lebhaft. Ein Blick aus den dunklen Augen des Mannes flackerte zu Brys, als der Kämpe an ihm vorbeiging, doch seine Lippen hörten nicht auf, sich zu bewegen. Brys sah, dass hinter dem Kanzler der Galan der Königin, Turudal Brizad, lässig an der Wand lehnte, ein einfältiges Grinsen im weichen, fast schon femininen Gesicht.
Brys hatte den Mann immer als merkwürdig beunruhigend empfunden, und das hatte nichts damit zu tun, dass er nur die einzige Aufgabe hatte, Janalls Galan zu sein. Stets war er schweigend präsent, oft auch bei Zusammenkünften, die brisanteste Staatsangelegenheiten betrafen, und seiner wohl einstudierten Gleichgültigkeit zum Trotz, war er dabei stets aufmerksam. Und es war wohl bekannt, dass er sein Bett nicht nur mit der Königin teilte, obwohl die Frage, ob Janall selbst davon wusste, Gegenstand unzähliger Mutmaßungen am Hof war. Zu seinen Liebhabern, so ging das Gerücht, gehörte angeblich auch Kanzler Triban Gnol.
Eine ziemlich unangenehme Brut, alles in allem.
Die Tür zum Arbeitszimmer des Ersten Eunuchen war geschlossen und wurde von zwei von Nifadas’ Rulith bewacht; die hochgewachsenen Leibwächter schleppten nichts von dem Fett mit sich herum, das man normalerweise bei Eunuchen erwartete. Kohlstreifen umgaben ihre Augen, rote Farbe verbreiterte ihre Münder und verzog ihre Gesichter zu einer stets spöttischen Grimasse. Ihre einzigen Waffen waren ein Paar Krummdolche, die in Scheiden unter ihren verschränkten Armen steckten, und wenn sie irgendeine Art von Rüstung trugen, dann war diese unter roten Seidenhemden und lohfarbenen Pantalons gut verborgen. Sie waren barfuß.
Beide nickten und traten beiseite, um Brys vorbeizulassen.
Er zog an der geflochtenen Quaste und konnte schwach die dumpfe Glocke in dem dahinter liegenden Zimmer hören.
Die Tür öffnete sich klickend.
Nifadas war allein; er stand hinter seinem Schreibtisch, auf dem zahllose Schriftrollen und ausgerollte Karten herumlagen. Er hatte dem Eingang den Rücken zugewandt und schien die Wand anzustarren. »Kämpe des Königs. Ich habe Euch erwartet.«
»Es schien mir das Naheliegendste, als Erstes Euch aufzusuchen, Erster Eunuch.«
»Recht so.« Nifadas schwieg ein paar Herzschläge lang, ehe er sagte: »Es gibt Überzeugungen, die die offizielle Religion eines Volkes ausmachen, doch besagte Überzeugungen und besagte Religion sind in Wirklichkeit kaum mehr als eine dünne Goldschicht, gehämmert auf weit ältere Knochen. Kein Volk ist einzigartig oder etwas
Weitere Kostenlose Bücher