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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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wieder sauber fühlen, und diese Tatsache drängte ihre Gedanken in die entgegengesetzte Richtung, als wollte ein Teil von ihr ihr Fleisch noch weiter besudeln, falls das überhaupt möglich war. Warum nicht? Verloren in der Dunkelheit, wie sie war, war es leicht, ihre Seele ganz und gar zu schwärzen.
    Allein und jetzt voller Angst – vor sich selbst, vor den drängenden Wünschen in ihrem Innern – ging sie weiter, ohne auf die Richtung zu achten. Tiefer in den Wald, wo das Totholz dichter war und es weniger Baumstümpfe gab und die wenigen ganz weich und verfault waren. Das Licht der Nachmittagssonne reichte kaum bis hierher.
    Schmerz war nichts. War bedeutungslos. Aber nein, Schmerzen hatten einen Wert, und wenn auch nur den, einen daran zu erinnern, dass man immer noch am Leben war. Wenn man nichts Normales mehr wiedererlangen konnte – und niemals wiedererlangen können würde –, musste man andere Freuden finden. Sie mussten entwickelt, Körper und Geist neu geschult werden, damit sie sich auch an einem dunkleren Charakterzug erfreuen konnten.
    Voraus war eine Lichtung, auf der Gestalten standen.
    Sie blieb stehen.
    Die Gestalten rührten sich nicht. Sie waren halb in die Erde gesunken, neigten sich im hohen Gras in diese und jene Richtung. Statuen. Dies war das Land der Tarthenal gewesen, erinnerte sie sich. Bevor die Letherii gekommen waren und die Stämme zerschmettert hatten. Der Name »Dresh« entstammte auch tatsächlich der Sprache der Tarthenal, genau wie die Namen der nahe gelegenen Dörfer Denner, Lan und Brauss.
    Seren trat näher, erreichte den Rand der Lichtung.
    Es waren insgesamt fünf Statuen, grob menschenähnlich, aber so verwittert, dass sie keinerlei Gesichtszüge mehr hatten; nur eine winzige Delle im Granit deutete an, wo die Augen gewesen waren. Sie steckten alle bis zu den Hüften in der Erde, was darauf hindeutete, dass sie – wenn sie auf dem Boden aufgestellt würden – so groß wären wie die Tarthenal selbst. Irgendeine Art von Pantheon, vermutete sie, dessen Namen und Gesichter die Jahrhunderte abgetragen hatten, die vergangen waren, seit zum letzten Mal Gläubige auf dieser Lichtung gewesen waren.
    Die Letherii hatten die Tarthenal damals beinahe ausgelöscht. Waren einem absoluten Völkermord so nah gekommen wie bei keiner anderen ihrer zahllosen Eroberungen. Sie erinnerte sich an eine Zeile aus einer geschichtlichen Aufzeichnung, die ein Augenzeuge jenes Krieges gemacht hatte. »Sie haben ihre heiligen Stätten mit einem Ausdruck des Entsetzens verteidigt, als würde etwas Riesiges und Entsetzliches entfesselt werden, sollten sie versagen …« Seren schaute sich um. Das einzig Riesige und Entsetzliche an diesem Ort war die Erbärmlichkeit seiner Verlassenheit.
    Sie wusste, dass solche dunklen Augenblicke in der Geschichte der Letherii systematisch ausgeklammert wurden und in dem Selbstbild ihrer Kultur als Überbringer des Fortschritts und Befreier von den Fesseln primitiver Lebensweisen, grausamer Traditionen und gewalttätiger Rituale praktisch keine Rolle spielten. Sie waren also Befreier, vom Schicksal dazu ausersehen, im Namen der Zivilisation grausamen Tyrannen ihre unterdrückten Opfer zu entreißen. Dass die Letherii den gerade befreiten vormaligen Opfern anschließend ihre eigenen unterdrückenden Regeln auferlegten, wurde nur selten zugegeben. Schließlich gab es nur eine Straße zu Erfolg und Erfüllung, mit Gold gepflastert und instand gehalten von letheriischen Mauteintreibern, und nur die Freien konnten dieser Straße folgen.
    Frei, vom gleichen Spiel zu profitieren. Frei, ihre eigenen Nachteile zu entdecken. Frei, missbraucht zu werden. Frei, ausgenutzt zu werden. Frei, anstelle von Schulden jemandem zu gehören. Frei, vergewaltigt zu werden.
    Und das Elend zu erfahren. Es war eine naturgegebene Tatsache, dass manche auf dieser Straße schneller als andere waren. Und es würde auch immer diejenigen geben, die nur kriechen konnten. Oder am Wegrand liegen blieben. Die grundlegendsten Gesetze des Daseins waren schließlich immer hart.
    Den Statuen vor ihr waren all diese Dinge gleichgültig. Ihre Gläubigen waren bei dem Versuch, sie zu verteidigen, gestorben – und das alles für nichts. Erinnerungen waren nicht der Vergangenheit gegenüber loyal, sondern nur gegenüber den Anforderungen der Gegenwart. Sie fragte sich, ob die Tiste Edur die Welt wohl auf die gleiche Weise sahen. Wie viel von ihrer eigenen Vergangenheit hatten sie vergessen, wie viele

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