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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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Rast machen müssen, Buruk.«
    »Ihr nicht. Und warum wollt Ihr für mich sprechen? Mir geht es gut, Freisprecherin. Bringt uns einfach nur zum Fluss.«
    In ihrem Packsack befanden sich all ihre Habseligkeiten und Vorräte. Sie hatte einen Schössling abgehauen und so zurechtgestutzt, dass er ihm als Wanderstab dienen konnte; mehr trug er nicht. Seine einst feinen Kleider waren zerschlissen, die Beinlinge von scharfkantigen Felsen zerfetzt. Er stand vor ihr und keuchte, lehnte sich vornübergebeugt schwer auf seinen Stock. »Ich werde hier rasten, Buruk«, sagte sie nach einem kurzen Augenblick. »Ihr könnt tun, was Euch beliebt.«
    »Ich kann es nicht ertragen, ständig beobachtet zu werden!«, schrie der Kaufmann plötzlich. »Diese verdammten Schatten! Sie beobachten uns die ganze Zeit! Ich ertrage es nicht mehr!« Und nach diesen Worten wankte er an ihr vorbei und weiter den Pfad entlang.
    Seren ging zu ihrem Packsack zurück und schnallte ihn sich einmal mehr auf den Rücken. Ein Gefühl teilte sie wohl mit Buruk: Je früher diese Reise zu Ende war, desto besser. Sie folgte ihm.
    Nach einem Dutzend Schritten hatte sie ihn erreicht. Und war an ihm vorbei.
    Zu dem Zeitpunkt, da Seren die Lichtung erreichte, auf der man sich vor mehr als einem Jahrhundert über den Grenzverlauf geeinigt hatte, war Buruk der Bleiche längst wieder irgendwo weit hinter ihr auf dem Pfad außer Sicht geraten. Sie blieb stehen, ließ ihr Bündel zu Boden sinken und trat an die glatte Mauer aus poliertem schwarzem Stein, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie die merkwürdige – und merkwürdig einladende – Oberfläche berührt hatte.
    Manche Geheimnisse würden sich niemals enträtseln lassen, während andere durch schlimme Umstände oder mittels tödlicher Pläne enthüllt wurden und größtenteils schmutzige Wahrheiten preisgaben.
    Sie legte die Hand an den warmen, glasierten Stein und spürte, wie sich eine Art Heilung in ihr Inneres stahl. Hinter der glatten Oberfläche bewegten sich unablässig irgendwelche Gestalten, die ihr nicht die geringste Beachtung schenkten. Das ist allemal besser, als unaufhörlich von Gespenstern bespitzelt zu werden. Und dies hier war, wie es immer gewesen war. Seren lehnte ihre Stirn gegen die Mauer, schloss die Augen.
    Und hörte ein leises Flüstern.
    Eine Sprache, die mit der der Edur verwandt war. Sie versuchte zu übersetzen. Und begann zu verstehen.
    »- wenn derjenige, der über die anderen gebietet, nicht angegriffen werden kann. Nicht besiegt werden kann.«
    »Und jetzt nährt er sich von unserer Wut. Von unserem Schmerz.«
    »Eine von den dreien wird zurückkehren. Und uns die Rettung –«
    »Du Narr! Aus jedem Tod erwächst neue Macht. Ein Sieg ist unmöglich.«
    »Es gibt keinen Platz für uns. Wir dienen nur. Wir verströmen nichts als Entsetzen, und die Auslöschung beginnt –«
    »Auch unsere –«
    »Ja, auch unsere.«
    »Glaubt ihr, dass sie wiederkommen wird? Glaubt irgendjemand, dass sie wiederkommen wird? Sie wird es, dessen bin ich mir sicher. Mit ihrem leuchtenden Schwert. Sie ist die aufgehende Sonne, und die aufgehende Sonne kommt immer, lässt uns hierhin und dahin hasten, schneidet uns mit jenem scharfen tödlichen Licht in Stücke –«
    »-Auslöschung hilft uns sehr wohl. Macht aus uns tote Scherben. Um die Sache zu einem Ende zu bringen –«
    »Es ist jemand bei uns.«
    »Wer?«
    »Eine Sterbliche ist hier bei uns. Zwei Gebieterinnen der gleichen Feste. Sie ist eine, und sie ist hier. Sie ist jetzt hier und hört uns zu.«
    »Stiehl ihren Verstand!«
    »Nimm ihre Seele!«
    »Lass uns raus!«
    Seren wich vor der schwarzen Mauer zurück. Stolpernd, die Hände auf die Ohren gepresst, schüttelte sie den Kopf. »Genug«, stöhnte sie. »Nichts mehr, bitte, nichts mehr.« Sie sank auf die Knie, blieb reglos, während die Stimmen verblassten, ihre Schreie verklangen. »Gebieterin?«, flüsterte sie. Ich bin niemandes Gebieterin. Einfach nur eine zögernde Frau mehr, die … die Einsamkeit liebt. Kein Platz für Stimmen, kein Platz für schwierige Ziele … glühende Leidenschaft.
    Genau wie Hull – nur noch Asche. Die schmutzigen Reste all der Dinge, die einst möglich gewesen wären. Aber im Gegensatz zu dem Mann, den sie einst zu lieben geglaubt hatte, war sie nicht vor einer neuen Ikone niedergekniet, um Gewissheit zu erlangen. Denn das war eine Entscheidung, deren Tragweite man nicht ermessen konnte – genau wie etwa die einschläfernde Täuschung irgendeiner

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