SdG 10 - Die Feuer der Rebellion
ist, reite ich einfach näher heran.«
»Und wenn es oben auf einer Klippe ist? Oder wenn es sich um ein weit entferntes feindliches Lager handelt und du herausfinden willst, wo sich die Vorposten befinden?«
Er nahm das Fernglas wieder in die Hand und trat ans Fenster. Sie schob ihren Stuhl ein Stück zur Seite, damit er Platz hatte. »Auf dem Sims von dem Turm da drüben – dem mit dem kupferbeschlagenen Dach – ist ein Falkennest.«
Er setzte das Fernglas an. Suchte, bis er das Nest fand. »Das ist kein Falke.«
»Du hast recht. Es ist ein Bokh’aral, dem das verlassene Nest anscheinend gefällt. Er trägt immer jede Menge verfaulter Früchte nach oben und verbringt den Morgen damit, sie auf die Leute unten auf der Straße fallen zu lassen.«
»Es sieht aus, als ob er die Zähne fletscht …«
»Das dürfte ein Lachen sein. Er bekommt immer mal wieder Anfälle von Ausgelassenheit.«
»Ah, ja – nein, das war keine Frucht. Das war ein Ziegel.«
»Oh, wie bedauerlich. Dann wird bald jemand hochgeschickt werden, um ihn zu töten. Schließlich ist es nur Menschen erlaubt, Ziegel auf Menschen zu werfen.«
Er senkte das Fernglas und musterte sie. »Das ist Wahnsinn. Was habt ihr für Gesetze, die so etwas zulassen?«
»So etwas? Was? Menschen zu steinigen oder Bokh’arala zu töten?«
»Du bist merkwürdig, Samar Dev. Aber du bist ja auch eine Hexe – und du fertigst nutzlose Gegenstände an –«
»Ist das Fernglas nutzlos?«
»Nein. Ich verstehe jetzt, dass es nützlich sein kann. Doch es hat auf dem Regal gelegen …«
Sie lehnte sich zurück. »Ich habe unzählige Dinge erfunden, die sich für viele Menschen als von großem Wert erweisen würden. Und das stellt mich vor ein Dilemma. Ich muss mich bei jeder Erfindung fragen, auf welche Weise dieses Objekt missbraucht werden kann? Und meistens komme ich zu dem Schluss, dass die Möglichkeiten, eine Erfindung zu missbrauchen, ihren Wert bei weitem übersteigen. Ich nenne dies Samar Devs Erstes Gesetz der Erfindungen.«
»Du bist von Gesetzen besessen.«
»Vielleicht. Und wenn schon, das Gesetz ist einfach, wie alle wahren Gesetze es sein müssen –«
»Hast du auch dafür ein Gesetz?«
»Das ist eher ein Grundsatz als ein Gesetz. Wie auch immer, die ersten Gedanken eines Erfinders im Gefolge einer besonderen Erfindung sollten der Ethik gelten.«
»Das nennst du einfach?«
»Die Feststellung ist es, die Überlegung nicht.«
»Nun, das klingt schon eher wie ein echtes Gesetz.«
Sie schloss den Mund nach einem Augenblick, stand dann auf und ging hinüber zu dem Schreibpult, setzte sich hin und griff nach einem Stift und einer Wachstafel. »Ich misstraue der Philosophie«, sagte sie, während sie schrieb. »Dennoch werde ich mich nicht von ihr abwenden … wenn sie mir direkt ins Gesicht springt. Und ich bin auch nicht besonders ausdrucksvoll, wenn ich schreibe. Ich kann viel besser mit Objekten umgehen als mit Worten. Du hingegen scheinst erstaunlich gut darin zu sein, dich … äh … treffend kurz fassen zu können.«
»Du redest zu viel.«
»Zweifellos.« Sie beendete die Niederschrift ihrer eigenen, unerwartet bedeutungsschwangeren Worte – bedeutungsschwanger nur deshalb, weil Karsa Orlong erkannt hatte, dass sie weit umfassender anwendbar waren, als sie im Sinn gehabt hatte. Sie machte eine Pause, wollte seine Begabung als blinden Zufall oder das protzige falsche Wissen eines edlen Wilden abtun. Aber etwas in ihr flüsterte ihr zu, dass Karsa auch früher schon unterschätzt worden war, und sie schwor sich, nicht in die gleiche Falle zu tappen. Sie legte den Griffel hin und stand auf. »Ich gehe, um mir den Dämon genauer anzusehen, den du getötet hast. Willst du mich begleiten?«
»Nein. Ich hatte schon Gelegenheit, ihn ganz genau anzusehen.«
Sie griff nach der Ledermappe, in der ihre chirurgischen Instrumente steckten. »Bleib bitte hier – und versuche, nichts kaputtzumachen.«
»Wie kannst du dich Erfinderin nennen, wenn es dir nicht gefällt, Dinge zu zerbrechen?«
Sie blieb an der Tür stehen und sah zu ihm zurück. Sein Kopf streifte die Decke – obwohl dies das höchste Zimmer in ihrem Turm war. Da war etwas … da, in seinen Augen. »Versuche, nichts von meinen Sachen kaputtzumachen.«
»Nun gut. Aber ich habe Hunger. Bring mehr zu essen mit.«
Der reptilische Leichnam lag auf dem Fußboden einer der Folterkammern, die sich in den unterirdischen Gewölben des Palasts befanden. Ein im Ruhestand lebender Gesteher
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