Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
du runterkommst! Jorst ist da!«
Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, wie Jorst mit seinem unförmigen alten Auto in die Einfahrt bog. King knipste seine Taschenlampe aus, steckte das Foto in die Tasche und schlich schnell und vorsichtig die Treppe hinunter. Michelle wartete in der Küche. Sie verschwanden durch die Hintertür, bogen um die Ecke, warteten, bis Jorst das Haus betreten hatte und klopften dann an die Vordertür.
Der Professor öffnete, fuhr zusammen, als er sie sah, und warf dann einen misstrauischen Blick auf die Straße. »Ist das Ihr Lexus da vorne an der Straße?« King nickte. »Ich hab niemanden drin gesehen, als ich vorbeifuhr. Und ich hab auch keinen von Ihnen auf dem Gehweg stehen sehen.«
»Konnten Sie auch nicht«, log King unverfroren. »Ich lag auf der Rückbank und hab auf Sie gewartet, und Michelle war gerade bei einem Ihrer Nachbarn, um dort zu fragen, wann Sie wohl nach Hause kämen.«
Jorst nahm ihm diese Geschichte offensichtlich nicht ab, doch bat er die beiden herein. Sie gingen ins Wohnzimmer und nahmen dort Platz.
»Sie haben also mit Kate gesprochen?«, fragte Jorst.
»Ja. Sie sagte, Sie hätten sie bereits über unseren Besuch informiert.«
»Hatten Sie das Gegenteil erwartet?«
»Sie scheinen sich sehr nahe zu stehen.«
Jorst bedachte King mit einem durchdringenden Blick. »Anfangs war sie die Tochter eines Kollegen und später eine meiner Studentinnen. Es wäre absolut danebengegriffen, da etwas anderes hineinzugeheimnissen.«
»Na ja, wenn Sie und ihre Mutter geheiratet hätten, dann wäre Kate immerhin Ihre Stieftochter geworden«, erwiderte King. »Und von diesen Plänen hatten wir keinen blassen Schimmer.«
Jorst war das Thema sichtlich unangenehm. »Warum auch? Es geht Sie ja schließlich nichts an. So, und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen – ich habe eine Menge zu tun.«
»Richtig, Sie schreiben ja an einem Buch. Worum geht’s dabei übrigens?«
»Interessieren Sie sich für Politikwissenschaft, Mr King?«
»Ich interessiere mich für alles Mögliche.«
»Schön, wenn Sie ’s unbedingt wissen müssen. Es handelt sich um eine Untersuchung des Wählerverhaltens im Süden, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart, sowie deren Einfluss auf die landesweiten Wahlen. Nach meiner These entspricht der heutige Süden längst nicht mehr dem, was wir einst unter dem ›Alten Süden‹ verstanden. Es handelt sich vielmehr um ein Sammelsurium höchst heterogener Einwanderergruppen, wie sie das Land seit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gesehen hat. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass der Süden zu einer Bastion des Liberalismus oder gar linksradikalen Gedankenguts geworden ist, aber es ist auch nicht mehr der Süden, wie wir ihn aus Vom Winde verweht oder Wer die Nachtigall stört kennen. In Georgia zum Beispiel stellen Einwanderer aus dem Nahen Osten die derzeit am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar.«
»Die Koexistenz zwischen Hindus und Moslems mit erzkonservativen Südstaatlern und Baptisten zu erforschen muss ein faszinierendes Thema sein«, meinte King. »Aber kommen wir wieder zur Sache. Sie haben die Ramseys nicht gekannt, bevor Sie ans Atticus kamen, oder?«
»Nein. Arnold Ramsey war ungefähr zwei Jahre vor mir gekommen. Ich war bis dahin Professor an einem College in Kentucky.«
»Als ich von den Ramseys sprach, meinte ich beide, Arnold und Regina.«
»Das ändert nichts an meiner Antwort. Ich kannte sie beide nicht, bevor ich hierher kam. Oder hat Ihnen Kate was anderes erzählt?«
»Nein«, warf Michelle rasch ein. »Sie hat uns nur gesagt, Sie seien mit ihrer Mutter gut befreundet gewesen.«
»Ich war mit beiden gut befreundet. Ich glaube, Regina hat mich als hoffnungslosen Junggesellen gesehen und es sich zur Aufgabe gemacht, mir das Gefühl zu geben, dass ich hier willkommen bin und dass es mir gut geht. Sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau. Am College hat sie Schauspielunterricht gegeben und ist sogar in mehreren Inszenierungen aufgetreten. Sie war eine großartige Schauspielerin, wirklich und wahrhaftig. Arnold hatte mir gegenüber ihre Begabung erwähnt, sich dabei aber immer auf die junge Regina bezogen. Deshalb nahm ich an, er übertreibe. Doch wenn man sie auf der Bühne sah, dann war sie hinreißend. Und sie war ebenso freundlich und gütig wie talentiert. Viele Menschen haben sie geliebt.«
»Das glaube ich gerne«, sagte King. »Und nachdem Arnold
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