Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
siehst du dir im Fernsehen keine Gerichtsserien an?« Er ging zu seinem Wagen und holte sich eine Taschenlampe. Als er wieder zu Michelle zurückkam, ergriff sie ihn am Arm. »Sean, das ist doch Wahnsinn! Wenn dich nun ein Nachbar sieht und die Polizei ruft?«
»Dann sagen wir ihnen, wir hätten jemanden um Hilfe rufen hören.«
»Eine noch faulere Ausrede fällt dir wohl nicht ein, oder?«
Sie standen inzwischen vor der Hintertür, und King drehte am Türknauf. »Verdammter Mist.«
Michelle stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Abgeschlossen? Na, Gott sei Dank!«
King stieß die Tür auf und grinste spitzbübisch. »War nur ein kleiner Scherz. Ich bleib nicht lange. Halt du schön die Augen offen.«
»Sean, bitte geh nicht da…«
Bevor sie den Satz beenden konnte, war er schon im Haus. Michelle schob die Hände in die Taschen und begann auf und ab zu schlendern. Sie wollte einen ganz und gar sorglosen Eindruck erwecken, spürte aber geradezu, wie sich die Säure in ihre Magenwand fraß. Sie versuchte sogar zu pfeifen, stellte aber schnell fest, dass es nicht klappte, weil ihre Lippen vor lauter Angst viel zu trocken waren.
»Verflucht seist du, Sean King«, murmelte sie vor sich hin.
Im Haus stellte King fest, dass er in der Küche gelandet war. Sie entpuppte sich, wie er im Licht der Taschenlampe erkannte, als ziemlich klein und kaum benutzt. Jorst schien eher der Typ zu sein, der außer Haus aß. King ging weiter und kam in ein Wohnzimmer, das ebenso bescheiden wie ordentlich eingerichtet war. Dass die Wände voller Bücherschränke standen, konnte ihn ebenso wenig überraschen wie die Tatsache, dass lauter Klassiker hier vertreten waren: Goethe, Francis Bacon, John Locke. Auch der allzeit beliebte Machiavelli fehlte nicht.
Jorsts Arbeitszimmer lag gleich neben dem Wohnraum und spiegelte seinen Charakter sehr viel deutlicher wider. Schreibtisch und Boden waren übersät mit Stapeln von Büchern und Papieren, und selbst das schmale Ledersofa war voll gepackt. Es roch durchdringend nach Zigaretten- und Zigarrenrauch, und auf dem Boden stand ein randvoll mit Kippen gefüllter Aschenbecher. Die Wände waren mit billigen Regalen zugestellt, deren Bretter sich unter der Bücherlast bogen. King durchsuchte den Schreibtisch, zog alle Schubladen auf und hielt Ausschau nach Geheimfächern und doppelten Böden, fand jedoch nichts, was in diese Kategorie gepasst hätte. Er hatte große Zweifel, dass er einen versteckten Durchgang finden würde, wenn er ein Buch aus dem Regal nahm – dennoch versuchte er es pflichtbewusst gleich mehrfach. Nichts rührte sich.
Jorst hatte behauptet, er schreibe gerade an einem Buch, und der Zustand seines Arbeitszimmers schien das zu bestätigen. Überall fanden sich haufenweise Notizen, Skizzen und Entwürfe. Ordnung gehörte offenkundig nicht zu seinen starken Seiten, und King betrachtete das Durcheinander mit Abscheu. Er selbst hielt es keine zehn Minuten in einem solchen Chaos aus. In seiner Jugend hatte seine Wohnung allerdings noch viel schlimmer ausgesehen, aber er war immerhin der pubertären Schlamperei entwachsen, was Jorst anscheinend nicht gelungen war. King dachte kurz daran, Michelle hereinzubitten und ihr einen Blick auf den Verhau zu ermöglichen. Wahrscheinlich würde es ihr gut tun.
Unter den Stapeln auf dem Schreibtisch grub er einen Terminkalender aus, der sich jedoch als völlig unergiebig erwies. Im Obergeschoss gab es zwei Schlafzimmer, von denen augenscheinlich nur eines benutzt wurde. Hier achtete Jorst mehr auf Ordnung. Die Kleidung in dem schmalen Kleiderschrank hing sorgfältig über Bügeln, die Schuhe waren fein säuberlich auf einem Gestell aus Zedernholz aufgereiht. King warf einen Blick unters Bett, wo ihn aber nur große Staubflusen begrüßten. Das angrenzende Bad enthielt nicht viel mehr als ein feuchtes Handtuch auf dem Fußboden und ein paar Toilettenartikel über dem Waschbecken. Das zweite Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs diente offenbar als Gästezimmer. Auch hier fand sich ein angrenzendes kleines Bad, das jedoch weder Handtücher noch Toilettenartikel enthielt. An einer Wand war ein Regalbrett angebracht, auf dem keine Bücher, sondern Fotografien standen. King beleuchtete eine nach der anderen mit seiner Taschenlampe. Auf allen war Jorst selbst abgebildet, immer wieder mit anderen Leuten, von denen King niemanden kannte – bis er zum letzten Bild kam.
Die Stimme von unten ließ ihn zusammenfahren. »Sean, mach, dass
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