Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Er könnte uns wertvolle Informationen liefern.«
King zog seine Jacke an. »Gehen wir.«
Auf dem Weg hinaus sagte Michelle: »Sean, ich kann nicht gutheißen, dass du das, was Joan getan hat, all die Jahre für dich behalten hast. Trotzdem bewundere ich es. Treue ist ein Wert für sich.«
»Wirklich? Ich weiß nicht, ob ich dir da zustimmen kann. Manchmal denke ich mir sogar, wer treu ist, den beißen die Hunde.«
KAPITEL 57
Paul Summers in Manassas, Virginia, wohnte in einem dreißig Jahre alten Bungalow mit versetzten Geschossen, der auf allen Seiten von neuen Wohnsiedlungen belagert wurde. Er kam in Jeans und einem burgunderfarbenen Football-T-Shirt der Redskins an die Tür und führte Michelle und King in das kleine Wohnzimmer. Sie nahmen Platz, und er bot ihnen etwas zu trinken an, was Michelle und King jedoch dankend ablehnten. Summers war ungefähr Mitte sechzig. Er hatte feines weißes Haar, ein breites Lächeln, fleckige Haut, mächtige Unterarme und einen noch mächtigeren Bauch.
»Dann sind Sie also Frank Maxwells Tochter«, sagte er zu Michelle. »Wenn ich Ihnen erzählen würde, wie Ihr Vater auf unseren Landesversammlungen immer mit Ihnen angegeben hat, würden Sie röter als mein T-Shirt.«
Michelle grinste. »Daddys kleines Mädchen, ich weiß. Manchmal ist es wirklich arg peinlich.«
»Aber, Menschenskind, wie viele Väter haben schon eine Tochter wie Sie? Ich würde genauso angeben.«
»Am Anfang fühlt man sich in ihrer Gegenwart wirklich etwas minderbemittelt«, sagte King mit einem spitzbübischen Seitenblick auf Michelle. »Aber dann lernt man sie besser kennen und entdeckt, dass sie auch nur ein Mensch ist.«
Summers setzte eine ernste Miene auf. »Ich hab diesen ganzen Zirkus um Bruno verfolgt. Die Sache stinkt zum Himmel. Früher hab ich oft mit dem Secret Service zu tun gehabt – und was hab ich da für Geschichten gehört! Schutzpersonen, die die verrücktesten Dinge anstellten und dann den Jungs vom Service den schwarzen Peter zuschoben. Sie sind angeschmiert worden, Michelle, schlicht und ergreifend angeschmiert.«
»Vielen Dank für Ihr Verständnis. Mein Vater meinte, Sie hätten möglicherweise Informationen, die uns weiterhelfen könnten.«
»Richtig. Ich war so was wie der inoffizielle Polizeihistoriker, als ich noch bei der Truppe war, und da gab’s aufregende Zeiten, das kann ich Ihnen sagen. Wenn die Leute heutzutage glauben, Amerika ginge vor die Hunde, dann sollten sie mal die Sechziger- und Siebzigerjahre genauer unter die Lupe nehmen.« Er zog unterm Sprechen einen Hefter hervor. »Ich hab hier ’n bisschen was, das Ihnen vielleicht helfen könnte.« Er setzte eine Lesebrille auf. »1974 hat der Watergate-Skandal das Land schier zerrissen. Die Leute sahen rot, wenn sie bloß den Namen Nixon hörten.«
»Ich glaube, ein paar von den großen Demonstrationen sind damals ein bisschen aus dem Ruder gelaufen«, sagte King.
»Das kann man wohl sagen! Die Polizeitruppe in Washington hatte sich zwar damals schon einigermaßen an Massendemonstrationen gewöhnt, aber es kommt doch jedes Mal anders, als man denkt.« Er rückte seine Brille zurecht und überflog kurz seine Aufzeichnungen. »Der Einbruch im Watergate-Hotel fand im Sommer 1972 statt. Etwa ein Jahr später erfuhr das Land von Nixons Tonbändern. Er berief sich auf seine Immunität und wollte sie um keinen Preis rausrücken. Nachdem er im Oktober 1973 den Sonderermittler entlassen hatte, brach die Lawine erst richtig los, und erste Rufe nach einem Impeachment, einer Amtsenthebung, ertönten. Im Juli 1974 entschied der Oberste Gerichtshof in Sachen Tonbänder gegen Nixon, und im August ist er dann zurückgetreten. Doch bevor der Supreme Court seinen Spruch fällte, wurde Washington – so im Mai 1974 – ein richtig heißes Pflaster. Ein Massenprotest mit Tausenden von Demonstranten war geplant und sollte durch die Pennsylvania Avenue führen. Die Bereitschaftspolizei zog auf, mit Dutzenden von berittenen Polizisten, der Nationalgarde, Hunderten von Secret-Service-Agenten, Sondereinsatzkommandos… Sie wissen schon, das ganze Arsenal. Ja, sogar ein verdammter Panzer fuhr auf. Ich war schon zehn Jahre dabei und hatte eine Menge Unruhen erlebt, aber so was… Ich weiß noch, dass mir schwer die Muffe ging. Man hätte glauben können, wir wären in einem Dritte-Welt-Land und nicht in den Vereinigten Staaten.«
»Und bei dieser Demonstration ist ein Polizist zu Tode gekommen?«, hakte Michelle nach.
»Nein,
Weitere Kostenlose Bücher