Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
einer von der Nationalgarde«, erwiderte Summers. »Man fand ihn mit eingeschlagenem Schädel in einer Seitengasse.«
»Und jemand wurde für die Tat verhaftet«, sagte King. »Ich frage mich nur: Woher wollte man den Täter so genau kennen? Da muss doch das reinste Chaos geherrscht haben.«
»Wie dem auch sei, man hat eben einen Verdächtigen verhaftet, gegen den dann auch Anklage erhoben werden sollte, doch am Ende verlief alles im Sande. Ich habe keine Ahnung, warum. Ich meine, der Nationalgardist war tot, ganz eindeutig, und irgendwer hatte ihn umgebracht. Die Zeitungen berichteten über den Fall, doch dann sprach sich der Supreme Court gegen den Präsidenten aus, Nixon trat im August zurück, und alles andere war auf einmal uninteressant. Der Tod des jungen Nationalgardisten geriet mehr oder weniger in Vergessenheit. Nach den Morden an Robert Kennedy und Martin Luther King, nach Vietnam und Watergate hatten die Leute wohl einfach die Schnauze voll.«
King beugte sich vor. »Können Sie uns die Namen des Beschuldigten, der Polizisten, die den Verdächtigten damals verhafteten, und der mit dem Fall befassten Staatsanwälte nennen?«
»Nein, tut mir Leid. Wir reden von einer Zeit, die dreißig Jahre zurückliegt. Und ich selber hatte überhaupt nichts mit dem Fall zu tun. Ich habe erst später davon erfahren. Deshalb würde ich auch keinen Namen wieder erkennen, wenn Sie mir einen nennen.«
»Was ist mit den Zeitungen? Sie sagten, es hätte Berichte gegeben.«
»Ja, schon, aber ich glaube nicht, dass die Namen der Beteiligten erwähnt wurden. Das war eine Zeit, in der es einem manchmal angst und bange wurde. Ehrlich gesagt, die Medien trauten der Regierung nicht mehr über den Weg. Vieles ging nicht mit rechten Dingen zu. Ich sage das ungern, weil ich selber zur Truppe gehört habe, aber so manch einer von den blau Uniformierten hat sich damals zu Dingen hinreißen lassen, die nicht ganz koscher waren. Da wurden immer wieder Grenzen überschritten, vor allem, wenn die langhaarigen Hippies in die Stadt kamen. Unter den Kollegen gab es einige, die da schnell die Geduld verloren. Es herrschte eine Lagermentalität – wir gegen die.«
»Das könnte auch in unserem Fall zutreffen. Man ließ die Vorwürfe stillschweigend unter den Tisch fallen«, erklärte Michelle. »Vielleicht waren die Beweise ja gefälscht.«
»Kann schon sein. Aber ich weiß es wirklich nicht genau.«
»Okay«, sagte King. »Wir bedanken uns für Ihre Hilfe.«
Summers grinste. »Sie werden sich gleich noch ein bisschen mehr bedanken.« Er hielt einen Zettel hoch. »Einen Namen hab ich nämlich für Sie: Donald Holmgren.«
»Wer ist das?«, fragte Michelle.
»Er war damals Pflichtverteidiger. Viele Demonstranten waren ja noch ganz jung, und die Hälfte von ihnen war ständig high. Es war, als hätten die ganzen Kriegsgegner – die Hippies und all diese Leute – jetzt Nixon aufs Korn genommen. Deshalb denke ich, dass man den Tod des Nationalgardisten wohl einem von denen zur Last gelegt hat. Wenn diese Leute kein Geld für einen Anwalt hatten, wurden sie zunächst mal von einem Pflichtverteidiger vertreten. Holmgren kann Ihnen da sicher mehr sagen. Er ist auch schon pensioniert und lebt jetzt in Maryland. Ich habe selbst nicht mit ihm gesprochen, doch wenn Sie die Sache richtig angehen, wird er Ihnen einiges erzählen können.«
»Vielen Dank, Paul«, sagte Michelle. »Wir stehen in Ihrer Schuld.« Sie umarmte ihn.
»He, Mädchen, sagen Sie Ihrem alten Herrn, dass er vollkommen richtig lag mit all dem, was er über Sie behauptet hat! Ich wünschte, meine Kinder wären wenigstens halb so gut geraten wie Sie.«
KAPITEL 58
Donald Holmgren wohnte in einem Haus am Stadtrand von Rockville, Maryland. Es war voll gestopft mit Büchern, Zeitschriften und Katzen. Der Witwer war um die siebzig, hatte dichtes graues Haar und trug zu seinen Hosen einen leichten Pullover. Im Wohnzimmer verjagte er ein paar Katzen vom Sofa und räumte auch einige Bücher weg, damit Michelle und King Platz nehmen konnten.
»Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns empfangen, obwohl wir uns so kurzfristig angemeldet haben«, sagte King.
»Schon in Ordnung. Ich habe ja längst nicht mehr so viel zu tun wie früher.«
»In Ihrer Zeit als Pflichtverteidiger sah das bestimmt anders aus«, meinte Michelle.
»Das können Sie laut sagen. Meine berufliche Tätigkeit fiel in interessante Zeiten.«
»Ich sagte Ihnen ja schon am Telefon«, begann King, »dass es sich bei dem
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