Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
trat, stellte sie überrascht fest, dass es schon dunkel war und sie über zwei Stunden in dem Gebäude verbracht hatte.
Sie nahm sich ein Zimmer in einem Motel und überprüfte anhand des dort ausliegenden Telefonbuchs die Namen und Adressen der Hotelangestellten auf der Liste. Drei Personen lebten nach wie vor in oder in der Nähe von Bowlington; ihre Anschriften hatten sich nicht verändert. Unter der ersten Nummer meldete sich niemand, weshalb sich Michelle damit begnügen musste, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Bei den beiden anderen Anschlüssen war sie erfolgreicher: Es meldeten sich zwei Frauen, die damals als Zimmermädchen im Fairmount-Hotel gearbeitet hatten. Michelle gab sich als Dokumentarfilmerin aus, die an einem Projekt über politische Attentate arbeitete und Leute interviewen wollte, die mit dem Fall Ritter vertraut waren. Zu ihrer Überraschung erklärten sich beide Frauen sofort damit einverstanden, an einem solchen Film mitzuwirken. Na ja, dachte Michelle, so überraschend ist diese spontane Bereitschaft nun auch wieder nicht: Was haben die Leute in diesem Kaff denn sonst zu tun? Sie vereinbarte mit den beiden Frauen Termine für den nächsten Tag. Dann fuhr sie zu einem Schnellimbiss im Western-Stil, wo innerhalb von zehn Minuten drei Kerle mit Cowboy-Hüten auf den Köpfen mit ihr anzubandeln versuchten. Als der dritte sie anmachte, hatte sie die Nase voll: In der einen Hand ihren Cheeseburger, zeigte sie dem Möchtegern-Verehrer mit der anderen ihre Pistole und sah vergnügt zu, wie er das Weite suchte. Ach, wie schön, so beliebt zu sein, dachte sie.
Nach dem Essen brachte sie ein paar Stunden in ihrem Motelzimmer damit zu, die Fragen vorzubereiten, die sie den beiden Frauen am nächsten Tag stellen wollte. Unterbrochen wurde sie vom Rückruf des dritten Zimmermädchens, das ebenfalls zu einem Treffen bereit war. Vor dem Einschlafen fragte sich Michelle, wohin ihre Aktivitäten wohl führen mochten und was sie eigentlich damit bezweckte. Sie hatte keine Ahnung.
Draußen vor dem Motel fuhr der alte Buick mit dem noch immer röhrenden Auspufftopf vor. Der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aber nicht aus, sondern fixierte die Tür zu Michelle Maxwells Zimmer, und dies mit einer solchen Intensität, dass man hätte meinen können, er sei imstande, durch die Wände zu schauen, ja vielleicht sogar direkt in den Kopf der jungen Secret-Service-Agentin hinein.
Der kommende Tag versprach interessant zu werden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Michelle Maxwell hier auftauchen würde, um eine Art Privatermittlung durchzuführen. Doch nachdem sie nun einmal da war, musste er möglichst elegant mit dem Problem fertig werden. Er hatte die Liste seiner Opfer sorgfältig zusammengestellt und nicht die geringste Lust, sie willkürlich zu erweitern. Allerdings mussten alle Pläne grundsätzlich immer wieder an sich verändernde Umstände angepasst werden. Es blieb abzuwarten, ob Maxwell ebenfalls auf die Liste gehörte.
Es gab noch viel zu tun, und eine neugierige junge Secret-Service-Agentin konnte sich durchaus zu einer Gefahrenquelle entwickeln, wenn man ihr nicht rechtzeitig Einhalt gebot. Er erwog, ob er sie sofort töten sollte, und tastete schon mal unter dem Sitz nach seiner Lieblingsmordwaffe. Doch kaum hatte er sie gefunden und die Finger bereits um das harte Metall gelegt, überlegte er es sich anders und lockerte seinen Griff wieder.
Nein, es fehlte an der richtigen Vorbereitung. Außerdem konnte Maxwells sofortiger Tod unabsehbare Komplikationen nach sich ziehen. Das war einfach nicht sein Stil. Michelle Maxwell durfte gerne noch einen Tag länger leben. Er ließ den Motor an, legte den ersten Gang ein und fuhr davon.
KAPITEL 16
Die ersten beiden ehemaligen Zimmermädchen aus dem Fairmount-Hotel brachten Michelle nicht weiter. Das Attentat war das bei weitem bedeutendste Ereignis, das sich sowohl in der Stadt als auch im Leben der beiden jemals zugetragen hatte. In den Gesprächen mit der »Filmemacherin« Michelle überboten sie sich gegenseitig in den abwegigsten Verschwörungstheorien, waren aber außerstande, auch nur einen einzigen handfesten Beweis dafür ins Feld zu führen. Michelle hörte sich das alles höflich an und ging dann wieder ihrer Wege.
Die dritte Adresse, die sie aufsuchte, war ein bescheidenes, aber gepflegtes, von der Straße ein wenig zurückgesetztes Haus. Loretta Baldwin erwartete Michelle auf der breiten Veranda. Baldwin war eine
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