Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
nicht, dass wir Zimmermädchen uns da unten aufhielten. Denen wäre es doch am liebsten gewesen, wenn die Gäste von uns gar nichts erfahren hätten. Trotzdem haben sie sich eingebildet, dass immer alles picobello sauber sein musste; irgendwie komisch, nicht wahr?« Ja, meinte Michelle, das meine sie auch. »Also, der Saal, in dem Ritter erschossen wurde, war der Stonewall-Jackson-Room. Benannt nach einem General der Konföderierten im Bürgerkrieg. So was wie einen Abraham-Lincoln- oder einen Ulysses-S.-Grant-Room gibt es bei uns hier im Süden natürlich nicht.«
»Verstehe.«
»Schön, ich hab also kurz in den Stonewall-Jackson-Room reingeschaut und den Mann gesehen. Hat immerzu irgendwelche Hände geschüttelt und so aalglatt dahergeredet und jedem, mit dem er gesprochen hat, tief in die Augen geschaut. War ja vorher Fernsehprediger gewesen, das hatte ich gelesen. Mir war schon klar, wie er an die vielen Spenden und Stimmen gekommen ist, der hatte eben das gewisse Etwas. Aber aus der Sicht einer Farbigen hab ich mir schon gedacht, dass dieser Clyde Ritter in den Stonewall-Jackson-Room passt wie die Faust aufs Auge und dass er wahrscheinlich sogar in der Jefferson-Davis-Suite übernachtet und sich dort ausgesprochen wohl gefühlt hat. Aber so ’n Präsident wär der nie geworden, und meine Stimme hätte der auch nicht gekriegt.«
»Das kann ich gut verstehen. Ist Ihnen außer Ritter noch irgendjemand aufgefallen?«
»Ich erinnere mich an einen Polizisten, der vor der Tür stand und niemanden reinließ. Ich musste sozusagen um ihn rumgucken. Wie gesagt, ich konnte Ritter sehen und auch den Mann, der gleich hinter ihm stand, ganz dicht an ihm dran.«
»Agent Sean King vom Secret Service.«
Loretta Baldwin sah ihr streng ins Gesicht. »Jawohl, genau der! Das klingt so, als würden Sie ihn kennen.«
»Nicht persönlich. Aber ich hab eben schon viel recherchiert.«
Loretta musterte Michelle von oben bis unten und schaffte es, dass die Jüngere schließlich errötete. »Sie tragen keinen Ring. Wollen Sie mir etwa weismachen, dass es keine passenden Männer gibt, die ein hübsches junges Ding wie Sie haben wollen?«
Michelle lächelte. »Meine Arbeitszeiten sind echt wahnsinnig. So was mögen Männer nicht.«
»Ach weißt du, Schätzchen, Männer mögen gar nichts, außer ein warmes Essen und ein Bier vor sich auf ’m Tisch, wenn sie Hunger oder Durst haben. Sie wollen, dass man sie in Ruhe lässt bei dem Blödsinn, den sie anstellen, und ganz viel Freizeit wollen sie und einen warmen Körper, wenn sie gerade scharf drauf sind, und kein Gequatsche danach.«
»Sie haben sie ja ganz gut durchschaut.«
»Dazu gehört doch nicht viel, oder?« Sie hielt einen Moment lang inne. »Ja, er sah echt gut aus, dieser Mann. Aber als er dann geschossen hat, sah er nicht mehr gut aus.«
Michelle spitzte die Ohren. »Sie haben gesehen, wie es passiert ist?«
»Ja. Da war dann auch gleich die Hölle los. Unglaublich. Der Polizist an der Tür drehte sich um, weil er sehen wollte, was da passiert war, aber er wurde einfach über den Haufen gerannt, und die Leute trampelten über ihn hinweg. Ich selber stand starr da wie eine Salzsäule. Ich hab schon früher Schüsse gehört und, als ich jung war, auch selber geschossen, um Tiere oder unerwünschte Eindringlinge zu vertreiben und so. Aber das da, das war ganz anders. Dann hab ich gesehen, wie King den Ramsey erschossen hat. Und dann haben sie schnellstens den Ritter aus dem Saal gezerrt, obwohl der schon mausetot war, das sah doch ein Blinder. Und dieser King stand da und starrte auf den Boden – wie … wie…«
»Als ob er selber gestorben wäre«, ergänzte Michelle.
»Genau! Woher wissen Sie das?«
»Ich kenne jemanden, der was Ähnliches durchgemacht hat. Haben Sie übrigens, kurz bevor Ritter erschossen wurde, ein Geräusch gehört, das Agent King abgelenkt haben könnte?« Um Lorettas Erinnerung nicht zu beeinflussen, verzichtete Michelle darauf, zu erwähnen, dass sie die Glocke eines Fahrstuhls meinte.
Loretta Baldwin dachte über die Frage nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Es war natürlich sehr laut, man hörte so alles Mögliche. Aber ich sag Ihnen, was ich getan hab: Ich bin durch den Flur gepest und hab mich in der Besenkammer verkrochen. Vor lauter Angst hab ich mich erst nach einer Stunde wieder hinausgewagt.«
»Noch mal zurück zu der Zeit vor dem Anschlag: Da haben Sie doch noch im zweiten Stock sauber
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