Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
herausgefunden, dass die Fahrstühle auf dieser Seite während der Veranstaltung mit Ritter vom Secret Service aus Sicherheitsgründen abgestellt worden waren. Also musste man davon ausgehen, dass es eigentlich gar keinen Glockenschlag gegeben haben konnte. Und doch hatte sie einen gehört – und Kings Aufmerksamkeit war genau i der entsprechenden Richtung abgelenkt worden. Später hatte er zwar behauptet, es habe sich um einen Routineblick im Rahmen seiner Beobachtungspflicht gehandelt, doch Michelle fragte sich, ob nicht mehr dahinter steckte. Sie betrachtete ein Foto, das den Versammlungssaal zur Zeit des Attentates zeigte. Der Teppichboden war erst später gelegt worden. Zur Tatzeit bestand der Boden aus Holz. Michelle stand auf, nahm ihr Messer zur Hand und schnitt den Teppichboden an einer bestimmten Stelle auf. Sie zog das etwa quadratmetergroße Stück zurück und beleuchtete den darunter liegenden Holzboden mit ihrer Taschenlampe.
Die dunklen Flecken waren noch zu sehen. Blut ließ sich aus Holz kaum noch herausbekommen, deshalb hatte sich die Hotelleitung offenbar für den Teppichboden entschieden. Das ist das Blut von Sean King und das von Clyde Ritter, dachte sie, auf ewig miteinander vermischt… Sie ging zu der Wand, vor der King damals gestanden hatte. Die Kugel, die ihn verwundet und Ritter getötet hatte, war dort eingeschlagen und natürlich längst entfernt worden. Die gepolsterte Wandverkleidung von damals war inzwischen durch die massive Mahagonivertäfelung ersetzt worden – auch in diesem Falle eine Art Abdeckung, als wollten die Hoteleigner damit die Ereignisse ungeschehen machen. Funktioniert hatte es nicht, denn das Hotel war schon bald nach Ritters Tod geschlossen worden.
Durch eine Tür hinter dem Empfang betrat Michelle das ehemalige Büro. Eine Wand war auf ganzer Länge mit einem hohen Aktenschrank verstellt, und auf den Schreibtischen lagen noch immer Papiere, Kugelschreiber und andere Büroutensilien herum. Es sah so aus, als wäre das Hotel von einer Minute zur anderen mitten in der Arbeitszeit geschlossen worden. Zu Michelles Verblüffung war der Aktenschrank noch voller Ordner. Sie nahm einige davon heraus und blätterte sie durch. Das Hotel hatte zum Zeitpunkt der Ermordung Ritters längst über eine Computeranlage verfügt, doch hatte man die wichtigsten Dokumente zur Sicherheit ausgedruckt und abgeheftet. Mit Hilfe ihrer Taschenlampe suchte Michelle die Unterlagen für 1996 heraus und fand auch schnell jene, die sich unmittelbar auf den Tag des Ereignisses bezogen. Wie sich herausstellte, enthielt der Schrank nur Material aus dem Jahr 1996 sowie von Anfang 1997. Michelle vermutete, dass sich bei der Schließung des Hotels niemand für die Räumung verantwortlich gefühlt hatte. Wenn die Dokumente im Laufe der Ermittlungen beschlagnahmt worden waren, so hatte man sie danach offensichtlich zurückgegeben.
Ritters Wahlkampftross hatte sich nur für eine Nacht im Fairmount-Hotel einquartiert. Den Buchungsunterlagen zufolge hatte King in Zimmer 304 gewohnt.
Über die Haupttreppe stieg Michelle in die zweite Etage hinauf. Da sie keinen Generalschlüssel gefunden hatte, behalf sie sich mit ihrem elektronischen Dietrich, und die Tür war in Nullkommanichts geöffnet. Für einen ausgebildeten Geheimagenten waren derlei Übungen Routine. Das Zimmer selbst bot – außer dem zu erwartenden Durcheinander – wenig Interessantes. Es gab eine Verbindungstür zum benachbarten Zimmer 302, in dem es genauso chaotisch aussah.
Sie ging wieder hinunter ins Erdgeschoss und wollte das Hotel schon verlassen, als ihr ein Gedanke kam. Sie kehrte ins Büro zurück und suchte nach den Personalakten der Hotelangestellten. Die waren allerdings leider nicht hier zu finden.
Michelle überlegte, konsultierte noch einmal den Zimmerplan, fand die Hausverwaltung und machte sich auf die Suche danach. Der große Raum war mit Regalen vollgestellt; des Weiteren befanden sich dort mehrere leere Ausgabeschalter und ein Schreibtisch. Michelle durchsuchte zunächst ihn und dann den großen Aktenschrank, der dahinter an der Wand stand. Dort endlich fand sie, was sie finden wollte: ein Klemmbrett mit den Namen und Adressen des Hauspersonals. Das Papier war angeschimmelt und von der Feuchtigkeit wellig geworden. Sie nahm die Liste an sich und kehrte ins Büro zurück. Dort suchte und fand sie ein Telefonbuch, das jedoch völlig veraltet war und ihr vermutlich kaum noch weiterhelfen konnte. Als sie wieder ins Freie
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