Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
bedeckt. Als sie die Tür schloss, wurde es plötzlich so still, dass Michelle froh darüber war, die Pistole an ihrem Gürtelhalfter zu spüren. Ihre .357er-Dienstpistole, die sie hatte abgeben müssen, hatte sie durch eine gepflegte SIG-9-Millimeter ersetzt. Alle Bundesagenten besaßen eine private Zweitwaffe.
Michelle hatte das Fairmount-Hotel nicht nur deshalb aufgesucht, weil sie eine morbide Neugier befriedigen wollte. Es war vielmehr eine Reihe seltsamer Parallelen, die ihr Interesse geweckt hatten.
Ähnlich wie die Ermordung Clyde Ritters hatte auch die Entführung des Präsidentschaftskandidaten John Bruno in einem obskuren Provinznest stattgefunden, einem Ort überdies, der gar nicht einmal so weit entfernt von Bowlington lag. Beide Taten waren in einem alten Gebäude verübt worden, auch wenn es sich im Fall Bruno um ein Bestattungsinstitut und im Fall Ritter um ein Hotel handelte. Im Fall Bruno mussten die Täter über Insider-Informationen verfügt haben – und nach allem, was sie bisher über den Mordfall Ritter herausgefunden hatte, wuchs in Michelle die Überzeugung, dass auch hier ein Insider mit von der Partie gewesen sein musste. Vielleicht konnte sie hier etwas herausfinden, das ihr in ihrer eigenen misslichen Lage weiterhalf; zumindest hoffte sie das. Auf jeden Fall war es um Längen besser, als im Hotel herumzusitzen und Trübsal zu blasen.
Michelle hockte sich auf einen kleinen Tisch in der Ecke und vertiefte sich in die Akte. Auf einem Lageplan waren die jeweiligen Positionen aller Beteiligten an jenem verhängnisvollen Tag eingetragen. Sie ging zu der Stelle, an der, unmittelbar hinter Clyde Ritter, Sean King gestanden hatte. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Sie prägte sich ein, wo die anderen Leibwächter positioniert gewesen waren – der erste, der zweite, der dritte. Die Menge hatte sich hinter einem Seil gedrängt, und Clyde Ritter hatte sich hinübergebeugt, um seinen Anhängern die Hände zu schütteln. Verschiedene Mitglieder des Wahlkampfteams waren quer über den Raum verteilt: Sidney Morse stand gegenüber von Ritter auf der anderen Seite der Absperrung. Michelle hatte Morse auf dem Videofilm gesehen; auch er war, wie alle anderen, schreiend davongelaufen. Doug Denby, Ritters Stabschef, hatte an der Tür gestanden. Arnold Ramsey, der Attentäter, hatte sich von hinten her langsam nach vorne gearbeitet, bis er unmittelbar vor seinem Opfer stand. Er trug ein »Friends-of-Clyde«-Plakat. Selbst für Michelles trainiertes Auge hatte er auf dem Videofilm völlig harmlos ausgesehen.
Auf der rechten Seite erblickte Michelle die Fahrstuhltüren, eine neben der anderen. Noch einmal versuchte sie sich in Sean King hineinzuversetzen – sah nach links, sah nach rechts, den Raum in präzise imaginäre Planquadrate unterteilend. Sie tat, als spräche sie in ein Halsmikrofon, und streckte die Hand aus, als berühre sie Ritters verschwitztes Hemd. Dann sah sie nach rechts und hielt den Blick dort, in Gedanken die Sekunden zählend, genauso lange wie King damals. Nur die Fahrstuhltüren waren an dieser Stelle bemerkenswert. Das leise »Pling«, das sie gehört hatte, musste von dort gekommen sein.
Ein lautes Krachen ließ sie zusammenfahren, automatisch zur Pistole greifen und in alle Ecken des Raumes zielen. Sie keuchte vor Schreck und zitterte derartig, dass sie sich auf den Boden setzen musste. Ihr war speiübel. Schnell wurde ihr bewusst, dass ein Geräusch wie dieses in einem alten, leer stehenden Hotel wahrscheinlich gar nichts Ungewöhnliches war: Vielleicht war irgendwo ein Stück von der Deckenvertäfelung heruntergefallen, vielleicht hatte sich auch ein Eichhörnchen ins Haus verirrt und irgendetwas umgestoßen. Das Timing war allerdings mörderisch gewesen. Michelle konnte nicht umhin, King dafür zu bewundern, dass er in einer ebensolchen Situation die Geistesgegenwart besessen hatte, trotz seiner eigenen Verwundung noch die Pistole zu ziehen und einen bewaffneten Mann zu erschießen. Hätte ich das geschafft, fragte sie sich. Hätte ich die Schmerzen in meiner Hand ertragen, mich von dem allgemeinen Chaos nicht anstecken lassen und noch gezielt schießen können? Nachdem sie die Situation auf ihre Weise nachvollzogen hatte, stieg ihr Respekt für King ganz erheblich.
Sie riss sich zusammen, sah sich die Fahrstuhltüren genauer an und wandte sich dann wieder der Akte zu. Auf dem Flug hatte sie sich näher mit den Unterlagen beschäftigt und dabei unter anderem
Weitere Kostenlose Bücher