Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
dort vielleicht der höchst empörte Geist von Clyde Ritter um? Am Ende des Flurs fand sie die Besenkammer, in der sich Loretta damals angeblich versteckt hatte. Sie war ziemlich groß, und drei der vier Wände waren mit Regalen voll gestellt.
Michelle stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in alle Ecken und Winkel. Schließlich öffnete sie die Tür zu Zimmer 302 und ging hinein. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Joan Dillinger leise an die Verbindungstür klopfte und von Sean King eingelassen wurde. Durchaus möglich, dass nach ein paar Drinks und ein bisschen Secret-Service-Klatsch Joans Höschen zur Deckenlampe hinaufgesegelt war und die beiden sich eine sinnlich-heiße Nacht gegönnt hatten.
Sie verließ das Zimmer wieder und kehrte zum Treppenhaus zurück. Vor einem der Fenster war eine große Müllrutsche angebracht worden; hier hatte offensichtlich jemand angefangen aufzuräumen, dann aber seine Bemühungen ebenso offensichtlich wieder eingestellt. Michelle beugte sich hinaus und brauchte eine Zeit lang, bis sich ihre Augen an das Sonnenlicht gewöhnt hatten. Die Rutsche endete unten in einem Container, der mit allerlei Unrat gefüllt war, insbesondere mit alten Matratzen, Vorhängen und Teppichbodenresten, die samt und sonders total verrottet aussahen.
Michelle stieg wieder ins Erdgeschoss hinab, blieb dort stehen und dachte nach. Die Treppen führten noch weiter hinunter, in den Keller. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es da unten noch etwas Interessantes zu finden gab. Außerdem lehrte einen jeder billige Horrorfilm, dass man sich nie und nimmer freiwillig in Kellerräume vorwagen sollte – es sei denn… nun, es sei denn, man war eine bewaffnete Agentin des Secret Service! Michelle zog ihre Pistole und machte sich auf den Weg treppabwärts. Im Kellerflur war der Teppichboden zerschlissen, und es stank nach Schimmel und Fäulnis. Eine kleine Tür fiel ihr erst auf, nachdem sie bereits daran vorbeigegangen war. Michelle ging zurück, öffnete die Tür und leuchtete hinein. Es handelte sich um einen großen Warenaufzug, von dem sich nicht sagen ließ, ob er nicht nur mit dem Erdgeschoss, sondern auch mit sämtlichen sieben Stockwerken verbunden war. Das Fairmount-Hotel war, so viel wusste sie inzwischen, ein sehr altes Gebäude. Durchaus möglich, dass über diesen Aufzug Wäsche und andere Platz raubende Dinge hinauf- und hinuntertransportiert wurden. Bedienungsknöpfe an der Wand verrieten, dass der Warenaufzug mit Strom betrieben worden war. Der Flaschenzug im Innern des Schachts ermöglichte die Benutzung des Aufzugs auch bei Stromausfällen.
Michelle ging weiter durch den Hauptflur des Kellers, bis ihr ein Haufen Schutt den Weg versperrte. An dieser Stelle war die Decke eingestürzt – das alte Gemäuer fiel buchstäblich in sich zusammen. Wenn nicht bald jemand mit der Abrissbirne kam, würde sich der Aufwand erübrigen.
Sie brauchte dringend frische Luft und Sonnenlicht! Michelle trabte die Treppe hinauf. Plötzlich wurde sie von einem grellen Lichtstrahl geblendet, und eine Stimme bellte ihr ins Ohr: »Stehen bleiben! Wachdienst! Ich bin bewaffnet und jederzeit bereit, von der Waffe auch Gebrauch zu machen.«
Michelle hob die Hände, in der einen die Pistole, in der anderen die Taschenlampe. »Ich bin Agentin des Secret Service.« Sie sagte es automatisch und vergaß dabei, dass sie sich gar nicht mehr ausweisen konnte.
»Secret Service? Okay. Ich bin Marshal Matt Dillon.«
»Können Sie diese Lampe wegnehmen?«, bat Michelle. »Die blendet ja furchtbar!«
»Legen Sie die Pistole auf den Boden«, sagte die Stimme. »Ganz brav und ohne Fisimatenten.«
»Okay, mach ich«, erwiderte Michelle. »Aber passen Sie bloß auf, dass Sie dabei nicht aus Versehen abdrücken und mich umlegen.«
Als sie sich wieder aufrichtete, bewegte sich der Lichtstrahl von ihren Augen fort.
»Was tun Sie hier? Das ist Privateigentum.«
»Ach ja?« Sie spielte die Naive.
»Das Gelände ist eingezäunt, und überall stehen Schilder, Lady!«
»Tja, die muss ich wohl übersehen haben.«
»Was hat der Secret Service denn hier unten im Keller zu suchen? Können Sie sich im Übrigen ausweisen?«
»Können wir nicht ans Tageslicht hinausgehen? Ich komme mir vor, als hätte ich sechs Stunden Höhlenforschung hinter mir.«
»Gut, aber lassen Sie die Waffe auf dem Boden liegen. Ich hebe sie selber auf.«
Sie verließen das Hotel. Draußen konnte Michelle sich ihr
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