Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Gegenüber etwas genauer ansehen. Es handelte sich um einen mittelgroßen, durchtrainierten Mann mittleren Alters mit kurzem, grau meliertem Haar. Er trug die Uniform eines privaten Wachdiensts.
Er starrte Michelle an, hielt noch immer seine Pistole auf sie gerichtet und schob sich mit der anderen Hand die ihre in seinen Hosenbund. »Okay, Sie wollten mir Ihre Dienstmarke zeigen. Aber selbst wenn Sie tatsächlich beim Secret Service sind – Sie haben hier nichts verloren.«
»Erinnern Sie sich an den Fall Clyde Ritter? An den Politiker, der vor acht Jahren etwa in diesem Hotel ermordet wurde?«
»Ob ich mich erinnere? Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Gegend, Lady. Das war das einzige aufregende Ereignis, das es hier je gegeben hat!«
»Nun, ich bin gekommen, um mir den Schauplatz anzusehen. Ich bin noch nicht lange beim Service, und was damals hier passiert ist, gehört zu den Szenarien, die wir in unserem Ausbildungszentrum immer wieder üben… Ich meine natürlich, wie man so was vermeidet. Ich war einfach neugierig und wollte mir persönlich einen Eindruck verschaffen. Also bin ich extra von Washington hier hergefahren, nur um feststellen zu müssen, dass der Laden inzwischen geschlossen ist. Eine kleine Ortsbesichtigung kann ja trotzdem nichts schaden, dachte ich.«
»Klingt halbwegs plausibel. Kann ich jetzt bitte Ihre Dienstmarke sehen?«
Michelle dachte einen Augenblick nach. Sie nahm die Hand ans Kinn – und berührte dabei ein Stückchen Metall. Sie zog die Anstecknadel mit dem Secret-Service-Signet aus dem Jackenaufschlag und hielt sie dem Wachmann hin. Alle Agenten des Service trugen solche Nadeln, damit sie sich gegenseitig als Kollegen erkennen konnten. Um Fälschungen vorzubeugen, wurde die Farbe regelmäßig geändert. Das morgendliche Anstecken der Nadel war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich auch nach ihrer Suspendierung vom Dienst noch daran hielt.
Der Wachmann betrachtete die Nadel von allen Seiten und gab sie ihr dann zurück.
»Meine Dienstmarke und meinen Ausweis hab ich im Motel gelassen«, erklärte sie.
»Okay, ich denke, das genügt. So wie der übliche Mob, der in leer stehende, verrammelte Hotels einbricht, sehen Sie ohnehin nicht aus.« Der Wachmann machte Anstalten, Michelle ihre Pistole zurückzugeben, zögerte dann aber plötzlich. »Einen Moment noch – würden Sie bitte Ihre Handtasche öffnen?«
»Warum?«
»Damit ich sehen kann, was drin ist, darum.«
Widerstrebend händigte sie ihm die Tasche aus. Während der Wachmann sie inspizierte, fragte Michelle: »Wem gehört das Gelände denn jetzt?«
»So was wird Leuten wie mir nicht mitgeteilt. Ich mache nur meine Runden und sorge dafür, dass sich hier keine Unbefugten herumtreiben.«
»Wird das Objekt denn rund um die Uhr bewacht?«
»Woher soll ich das denn wissen? Ich schiebe bloß meine Schicht, und damit hat’s sich.«
»Was haben die Eigentümer denn mit dem Kasten vor? Wollen sie ihn abreißen lassen?«
»Keine Ahnung, aber wenn sie noch viel länger warten, bricht er von alleine zusammen.«
Er zog die beiden Meldescheine aus ihrer Handtasche und betrachtete sie. »Könnten Sie mich vielleicht darüber aufklären, wozu Sie die brauchen?«
Michelle bemühte sich, so naiv wie möglich dreinzuschauen. »Ach, die! Na ja, ich kenn die beiden zufällig. Sie waren damals hier, als Ritter erschossen wurde. Ich… ich…« Sie zögerte und ergänzte dann in wenig überzeugendem Ton: »Ich dachte, ich könnte ihnen diese Scheine mitbringen, als eine Art Souvenir.«
Der Wachmann blickte ihr unverwandt in die Augen. »Als Souvenirs? Verdammt, ihr Agenten habt vielleicht perverse Vorstellungen.« Er steckte die beiden Meldescheine wieder an Ort und Stelle und gab Michelle Handtasche und Pistole zurück.
Der Wachmann blickte ihr nach, als sie zu ihrem Wagen zurückkehrte. Er wartete noch ein paar Minuten, dann verschwand er wieder im Hotel. Als er nach zehn Minuten wieder herauskam, hatte sich sein Äußeres drastisch verändert. Michelle Maxwell ist sehr clever, dachte er. Wenn sie so weitermacht, kann es leicht passieren, dass sie noch auf meiner Liste landet. Er war hierher gekommen und hatte die Wachmann-Nummer abgezogen, weil er wissen wollte, was sie herausgefunden hatte. Die Namen auf den Meldescheinen waren zwar interessant – aber keinerlei Überraschung: Sean King und J. Dillinger. Was für ein reizendes Pärchen!
Buick-Mann stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
KAPITEL
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