Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
und das Boot auf ihn zutreiben ließ, kam ihm irgendetwas an ihr sehr bekannt vor.
Sie sah sich um und tat überrascht, als sei ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie dem Ufer schon so nahe war.
»Hallo«, sagte sie und winkte.
Er winkte nicht zurück, sondern nickte nur kurz und warf seine Angel wieder aus. Dass der Schwimmer unweit ihres Bootes aufs Wasser traf, war reine Absicht.
»Ich hoffe, ich vergraule Ihnen nicht die Fische«, sagte die Frau.
»Hängt davon ab, wie lange Sie hier bleiben wollen.«
Sie zog die Knie an. Sie trug schwarze Lycra-Shorts. Ihre Oberschenkelmuskeln waren lang und wirkten wie Kabelstränge unter der Haut. Sie befreite das Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und wischte sich mit einem Handtuch über das Gesicht. Dann sah sie sich genauer um. »Junge, Junge, ist das schön hier!«
»Deshalb kommen auch immer wieder Touristen her«, sagte er vorsichtig. »Wo kommen Sie denn her?« Obwohl er angestrengt nachdachte, war es ihm noch nicht gelungen, sie einzuordnen.
Sie deutete nach Süden. »Ich bin mit dem Wagen zu dem Naturpark da unten gefahren und habe dort mein Boot zu Wasser gelassen.«
»Das sind ja fast zwölf Kilometer!«, rief King. Die Frau war noch nicht einmal außer Atem.
»Ich mache so was öfter.«
Das Boot hatte ihn fast erreicht. Und jetzt, endlich, erkannte King, um wen es sich handelte. Er konnte seine Verblüffung kaum verbergen.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten, Agentin Maxwell?«
Sie spielte im ersten Moment die Überraschte, schien dann aber einzusehen, dass solche Spiegelfechtereien unter den herrschenden Umständen nicht nur überflüssig, sondern geradezu lächerlich waren.
»Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände bereitet.«
»Von einem in Ungnade gefallenen Agenten zum anderen – nein, das macht keine Umstände!«
King half ihr, das Boot an Land zu ziehen. Michelle betrachtete die überdachten Liegeplätze und die dazugehörigen Gerätekammern. Kings Motorboot, sein Kanadier, die Sea-Doo und die anderen Boote waren auf Hochglanz poliert, Werkzeuge, Taue, Leinen und andere Ausrüstungsgegenstände sorgfältig aufgestapelt, aufgehängt oder anderweitig verstaut.
»Ordnung ist das halbe Leben?«, fragte Michelle.
»Ja, darauf lege ich Wert«, sagte King.
»Ich bin im Privatleben eher schlampig.«
»Das höre ich ungern.«
Gemeinsam gingen sie ins Haus.
Sean goss ihnen Kaffee ein, und sie setzten sich an den Küchentisch. Michelle hatte ein Harvard-Sweatshirt über ihr Tank Top gestreift und war in eine dazu passende Sporthose geschlüpft.
»Ich dachte, Sie hätten an der Georgetown-Universität studiert«, sagte King.
»Diesen Anzug habe ich von den Olympiavorbereitungen in Boston. Wir trainierten auf dem Charles River.«
»Ach ja, richtig, die Olympischen Spiele. Ganz schön aktive Frau.«
» Mir gefällt das so.«
»Na ja, so aktiv sind Sie ja nun auch nicht mehr. Ich meine, Sie haben genug Zeit für frühmorgendlichen Wassersport und für Besuche bei ehemaligen Secret-Service-Agenten.«
Michelle lächelte. »Dass ich aus reinem Zufall hier vorbeigekommen bin, nehmen Sie mir also nicht ab?«
»Der Sweatsuit war das entscheidende Indiz. Er verrät mir, dass Sie darauf spekuliert haben, das Boot irgendwo zu verlassen, bevor Sie wieder zu Ihrem Wagen zurückkehren. Außerdem bezweifle ich, ob Sie zwölf Kilometer gerudert wären, wenn Sie nicht genau gewusst hätten, dass ich zu Hause bin – Olympiateilnahme hin oder her. Heute Morgen klingelte bei mir mehrfach das Telefon, in Abständen von jeweils etwa dreißig Minuten, und wenn ich ranging, wurde sofort aufgelegt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie ein Handy im Boot haben.«
»Einmal Ermittler, immer Ermittler, wie?«
»Ich bin nur froh, dass ich zu Hause bin und Sie in Empfang nehmen konnte. Es wäre mir nicht recht, wenn Sie hier auf dem Gelände herumwandern würden. Das haben kürzlich andere getan, und ich muss sagen, dass ich das einfach nicht leiden kann.«
Michelle setzte ihre Tasse ab. »Ich bin in den letzten Tagen auch ein wenig herumgewandert.«
»Ach ja? Wie schön für Sie!«
»Und zwar unten in North Carolina, in einem Städtchen namens Bowlington. Ich glaube, Sie kennen es.« Jetzt stellte auch King seine Tasse ab. »Das Fairmount-Hotel gibt es noch, aber es ist geschlossen.«
»Wenn Sie mich fragen: Man sollte ihm den Gnadenschuss geben, es von seinen Leiden erlösen.«
»Da war eine Sache, die ich nie begriffen habe.
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