Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
das mitbekommen habe, bestand die Hauptstrategie darin, die großen Parteien und ihre Spitzenkandidaten tüchtig zu verunsichern – und das gelang ihnen auch, dank Morse. Später dann wollten sie den einen oder anderen Kuhhandel mit der Gegenseite abschließen. Am Ende hat Ritter nur noch das getan, was Morse ihm vorgab.«
»Und das hat Denby offenbar gewurmt. Was ist aus ihm geworden?«
»Keine Ahnung. Wo bleiben ehemalige Stabschefs schon ab? Da ist alles möglich.«
»Sie hatten die Frühschicht. Gehe ich fehl in der Annahme, dass Sie deshalb am Abend zuvor schon zeitig zu Bett gegangen sind?«
King starrte sie eine Weile lang wortlos an. Dann sagte er: »Nach Feierabend war ich mit ein paar Kollegen von meiner Schicht noch im Fitnessraum des Hotels. Wir haben dann ziemlich früh zu Abend gegessen – ja, und danach bin ich ins Bett gegangen. Warum interessiert Sie das, Agentin Maxwell?«
»Bitte nennen Sie mich Michelle. Ich hab Sie nach der Ermordung von Jennings im Fernsehen gesehen und hatte schon vorher im Service von Ihnen gehört. Nach dem, was mir passiert ist, wollte ich plötzlich mehr darüber wissen, wie es damals bei Ihnen war. Ich spürte eine Verbindung zwischen uns.«
»Komische Verbindung«, gab Sean spöttisch zurück.
»Wer waren die anderen Agenten, die damals auf Ritter aufgepasst haben?«
Er musterte sie kritisch. »Warum wollen Sie das wissen?«
Sie erwiderte seinen Blick mit Unschuldsmiene. »Vielleicht kenne ich den einen oder anderen von ihnen. Ich könnte sie aufsuchen und mit ihnen reden. Herausfinden, wie sie mit den Ereignissen damals fertig geworden sind.«
»Das steht garantiert in irgendwelchen Berichten. Lesen Sie ’s dort nach.«
»Wenn Sie ’s mir erzählen würden, könnte ich mir eine Menge Zeit sparen.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Na gut. War Joan Dillinger damals auch in Ihrem Team?«
King stand auf, ging zum Fenster und spähte hinaus. Als er sich umdrehte und Michelle wieder ansah, hatte sich seine Miene verdüstert. »Sagen Sie, sind Sie verwanzt? Entweder Sie ziehen sich jetzt aus und beweisen mir das Gegenteil, oder Sie hüpfen sofort wieder in Ihr Boot und rudern zur Hölle – oder jedenfalls fort von hier und aus meinem Leben!«
»Ich bin nicht verwanzt. Aber wenn Sie ’s für nötig halten, ziehe ich mich aus.« Vergnügt fügte sie hinzu: »Ich könnte aber auch in den See springen – elektronische Geräte und Wasser passen bekanntlich nicht so gut zusammen…«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich hätte gerne eine Antwort auf meine Frage. War Joan damals auch in Ihrem Team?«
»Ja! Aber nicht in der gleichen Schicht.«
»Also war sie am Tag X auch im Hotel?«
»Ich hab den Eindruck, Sie kennen die Antwort längst. Was soll also die Fragerei?«
»Darf ich das als ›ja‹ interpretieren?«
»Interpretieren Sie es, wie Sie wollen.«
»Haben Sie mit ihr die Nacht verbracht?«
»Nächste Frage – und zwar eine gute, denn es ist Ihre letzte.«
»Also gut: Kurz bevor der Schuss fiel, öffnete sich die Fahrstuhltür. Wen oder was haben Sie da gesehen?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Sie wissen es ganz genau. Kurz bevor Ramsey schoss, habe ich die Glocke eines Fahrstuhls gehört. Das hat Sie abgelenkt. Diese Fahrstühle hätten eigentlich abgestellt sein sollen. Wer oder was immer in diesem Fahrstuhl gewesen ist, hat, als die Tür aufging, sekundenlang Ihre gesamte Aufmerksamkeit beansprucht, und deshalb konnte Ramsey auf Ritter feuern, ohne dass Sie es mitbekamen. Ich hab mich beim Service kundig gemacht: Die Ermittler, die sich das Video ansahen, haben ebenfalls ein Geräusch gehört. Im offiziellen Abschlussbericht ist davon keine Rede mehr, aber ich habe gestern noch ein bisschen herumtelefoniert. Sie sind bei den Verhören nach dem Geräusch befragt worden und haben geantwortet, Sie hätten zwar etwas gehört, aber nichts gesehen, und könnten es sich nur mit einem Defekt am Fahrstuhl erklären. Die Ermittler sind der Sache nicht weiter nachgegangen, weil sie ihren Sündenbock ja schon hatten. Ich dagegen bin überzeugt, dass Sie auch etwas gesehen haben – oder, genauer gesagt, jemanden .«
Kings Reaktion bestand darin, dass er die Tür zu hinteren Terrasse öffnete und Michelle unmissverständlich zum Gehen aufforderte.
Sie erhob sich und stellte ihre Kaffeetasse ab. »Immerhin konnte ich meine Fragen anbringen. Auch wenn sie nicht alle beantwortet wurden.«
Sie ging an ihm vorbei und blieb stehen. »Sie haben Recht. Sie
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