Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
der Besenkammer gesehen hat.«
»Da kämen ja wohl auch nur Leute in Frage, die aus demselben Grund wie Loretta dort Zuflucht gesucht hätten, nämlich aus purer Angst.«
»Nein, da muss mehr dran sein. Erinnerst du dich noch an diese Kammer? Ich war der Meinung, die Baldwin müsse sich ganz hinten versteckt haben, weil sie damit rechnete, dass jeden Moment ein Kerl mit einer Waffe reinstürmt und…« Er hielt mitten im Satz inne und sah Michelle mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was willst du sagen? Dass sie tatsächlich gesehen hat, wie jemand mit einer Waffe reinkam?«
»Oder mit irgendwas anderem. Weshalb sonst hätte sie misstrauisch werden sollen? Da liefen doch wahrscheinlich Dutzende von Leuten durch die Gegend und suchten in ihrem Schock nach irgendeinem Schlupfwinkel, in dem sie sich verstecken konnten.«
»Aber weshalb mit einer Waffe?«
»Warum nicht? Ein Kerl, der unmittelbar nach einem Mordanschlag eine Waffe in einer Besenkammer verstecken will, ist für mich jedenfalls verdächtiger als einer, der eine Brille oder ein Bündel Geldscheine verstecken will. Eine Waffe brandmarkt ihn von vornherein als potenziellen Mitverschwörer. Aber exerzieren wir das mal von A bis Z durch: Der Kerl hat also eine Waffe. Er fürchtet, dass er beim Verlassen des Hotels angehalten und durchsucht werden könnte. Also rennt er, als gleich nach dem Anschlag die Hölle losbricht, in diese Besenkammer und versteckt seine Knarre dort, ohne zu wissen, dass Loretta ihn dabei beobachtet. Vielleicht hat er von vornherein geplant, die Pistole dort zu deponieren. Kann sein, dass er sie später abholen will, vielleicht liegt es aber auch in seiner Absicht, dass die Polizei sie findet – vor allem dann, wenn sie keine Rückschlüsse auf den Tathergang zulässt. Auf jeden Fall stopft er seine Waffe zwischen ein paar Handtücher oder sonst irgendwo hin und haut ab. Loretta kommt aus ihrem Versteck und nimmt das Ding an sich. Vielleicht will sie die Pistole erst der Polizei übergeben, ändert dann aber ihre Meinung und beschließt, es mit einer Erpressung zu versuchen. Da sie im Hotel arbeitet und sich auskennt, findet sie bestimmt einen unbewachten Ausgang. Kann natürlich auch sein, dass sie die Pistole zunächst einmal woanders versteckt und sich erst später holt.«
Michelle versuchte Kings Argumentation nachzuvollziehen. »Schön, dann hat sie also die Waffe, und sie hat den Kerl gesehen – und wenn sie nicht weiß, wer es ist, dann lässt sich das leicht herausfinden. Sie kontaktiert ihn anonym, wahrscheinlich mit einem Foto der Waffe und einem Hinweis darauf, wo sie ihn gesehen hat, und fängt an, ihn zu melken … Das klingt verdammt plausibel, Sean, und alles andere passt auch.«
»Und deshalb ist ihr Haus von oben bis unten durchwühlt worden. Auf der Suche nach der Waffe.«
»Glaubst du wirklich, sie hat das Ding hier behalten?«
»Du hast doch gehört, was Tony gesagt hat: Sie mochte keine Banken. Wahrscheinlich gehörte sie zu jenen Menschen, die alles, was ihnen irgend wichtig ist, immer in Reichweite haben wollen.«
»Die nächste Preisfrage lautet also: Wo ist die Waffe jetzt? Ob Lorettas Mörder sie gefunden hat?«
»Eventuell müssen wir das ganze Haus zerlegen.«
»Das bringt wahrscheinlich nichts. Wer eine Waffe einmauert, hat sie eben nicht ständig in Reichweite – es sei denn, es gibt irgendwo ein leicht zugängliches Geheimfach.«
»Stimmt.« King ließ seinen Blick geistesabwesend über den kleinen Garten schweifen. An einem bestimmten Fleck blieb er hängen, glitt weiter und kehrte wieder zurück. Eine Reihe von sieben Hortensiensträuchern hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sechs rosablühende und, in der Mitte, einer mit blauen Blüten.
»Hübsche Hortensien«, rief er Tony zu.
Der gesellte sich zu ihm und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Ja, die hat Mama am meisten geliebt, wahrscheinlich noch mehr als ihre Rosen.«
King sah ihn neugierig an. »Das ist interessant. Hat sie jemals erklärt, warum?«
Tony sah ihn fragend an. »Warum was?«
»Warum ihr die Hortensien lieber waren als die Rosen.«
»Glaubst du wirklich, dass es darauf ankommt, Sean?«, fragte Michelle.
Tony rieb sich das Kinn. »Also jetzt, wo Sie mich fragen – sie hat mir mehr als einmal erzählt, ihre Hortensien wären für sie geradezu unbezahlbar.«
King warf Michelle einen bedeutsamen Blick zu, dann starrte er auf die blaue Hortensie und rief: »Verdammt!«
»Was hast du?«, fragte Michelle.
»Die
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