Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
das ist kaum möglich, weil sie schon kurz nach unserem Gespräch umgebracht wurde. Aber wir waren doch ganz alleine auf ihrer Veranda! Trotzdem muss uns jemand belauscht haben. Mein Gott, wahrscheinlich bin ich daran schuld, dass sie ermordet wurde!«
King packte ihre Hand. »Nein, bist du nicht! Der Kerl, der sie in ihrer Badewanne unter Wasser gedrückt hat, ist der Schuldige.«
Michelle schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Kings Tonfall wurde streng. »Hör zu, es tut mir ja Leid, was mit Loretta passiert ist. Aber wenn sie ihren späteren Mörder jahrelang erpresst hat, dann hat sie sich auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen, und zwar aus eigenem Entschluss. Sie hätte ebenso gut rechtzeitig zur Polizei gehen und die Pistole dort abliefern können.«
»Das sollten wir jetzt tun.«
»Das werden wir auch, obwohl die Seriennummer abgefräst wurde und das gute Stück in schlechtem Zustand ist. Aber vielleicht können die Jungs in der kriminaltechnischen Abteilung beim FBI noch irgendwelche Erkenntnisse daraus ziehen. In Charlottesville gibt’s ein FBI-Büro. Dort geben wir das Ding auf dem Heimweg ab.«
»Und wie geht’s weiter?«
»Wenn jemand am Tag des Mordes an Clyde Ritter eine Waffe in der Besenkammer des Fairmount-Hotels versteckt hat – was sagt dir das?«
Michelle ging ein Licht auf. »Dass Arnold Ramsey wahrscheinlich kein Einzeltäter war.«
»Genau. Und deshalb fahren wir jetzt dorthin.«
»Wohin?«
»Zum Atticus College. Wo Ramsey Professor war.«
KAPITEL 34
Die schönen, gepflasterten Alleen und die eleganten, mit Efeu überwachsenen Gebäude des kleinen Atticus Colleges schienen zu einem Ort, der politische Attentäter hervorbrachte, kaum zu passen.
»Von dieser Hochschule hatte ich vor Ritters Ermordung noch nie etwas gehört«, sagte Michelle, während sie ihren Land Cruiser langsam über den Campus steuerte.
King nickte. »Und mir war nicht klar, wie nahe es an Bowlington liegt.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir haben nur eine halbe Stunde gebraucht.«
»Was hat Ramsey hier gelehrt?«
»Politische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der amerikanischen Wahlgesetzgebung. Sein persönliches Interesse galt allerdings eher radikalen politischen Theorien.« Michelle sah ihn verblüfft an. »Nach dem Mord an Ritter«, fuhr er erklärend fort, »hab ich sozusagen meine eigene Doktorarbeit über Arnold Ramsey geschrieben.« Er sah Michelle von der Seite an. »Wenn du einen schon über den Haufen schießt, dann solltest du dir hinterher wenigstens die Zeit nehmen, etwas mehr über ihn zu erfahren.«
»Das klingt ein bisschen gefühllos, Sean.«
»So ist es nicht gemeint. Ich wollte einfach wissen, warum ein anscheinend respektabler College-Professor einen ziemlich bescheuerten Präsidentschaftskandidaten erschießt, der ohnehin keine Chance hat, gewählt zu werden. Warum einer wie Ramsey für so was sein eigenes Leben opfert.«
»Ist das im Laufe der Ermittlungen nicht nach allen Regeln der Kunst untersucht worden?«
»Nicht so gründlich, wie dies wohl im Falle eines wirklich aussichtsreichen Kandidaten geschehen wäre. Davon abgesehen waren, glaube ich, alle Beteiligten daran interessiert, diese unappetitliche Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.«
»Nach dem offiziellen Untersuchungsbericht war Ramsey ein Einzeltäter.«
»Was, gemessen an unseren neuesten Erkenntnissen, anscheinend ein Trugschluss war.« King starrte aus dem Fenster. »Trotzdem – ich weiß nicht. Es ist schon so lange her. Wahrscheinlich hätten wir uns den Besuch hier sparen können.«
»Aber jetzt sind wir schon mal da, also tun wir unser Bestes. Vielleicht entdecken wir ja was, das allen anderen entgangen ist. Ich darf dich an die blaue Hortensie erinnern.«
»Vielleicht entdecken wir aber auch was, das besser unentdeckt bliebe.«
»Das halte ich aber für keine gute Einstellung.«
»Du meinst, die Wahrheit sollte auf jeden Fall und immer ans Licht kommen?«
»Du nicht?«
King zuckte die Achseln. »Ich bin Jurist. In solchen Dingen fragst du lieber einen richtigen Menschen.«
Sie fragten sich von Pontius zu Pilatus durch, bis sie schließlich im Büro von Thornton Jorst saßen. Er war schlank und von mittlerer Größe und schien ungefähr Anfang fünfzig zu sein. Eine Brille mit dicken Gläsern und seine bleiche Haut verliehen ihm einen ausgesprochen professoralen Anstrich. Er war nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund des
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