Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
Anstellung.«
»War er beliebt bei seinen Studenten?«, fragte King.
»Weitgehend schon, denke ich. Auf jeden Fall beliebter als ich bei meinen.« Jorst lachte leise in sich hinein. »Meine Zeugnisse fallen sehr viel strenger aus als die meines verstorbenen, viel beweinten Kollegen.«
»Ich nehme an, dass sich seine politischen Überzeugungen sehr deutlich von denen Ritters unterschieden?«, fragte Michelle.
»In diese Kategorie fielen neunundneunzig Prozent aller Amerikaner – Gott sei Dank, kann ich nur sagen. Dieser Ritter war ein Fernsehprediger, der irregeleiteten Menschen im ganzen Land das Geld aus der Tasche zog. Wie kann sich ein solcher Mensch um den Job im Weißen Haus bewerben? Da schämt man sich ja für sein eigenes Land.«
»Klingt, als hätten Ramseys Ansichten auf Sie abgefärbt«, kommentierte King.
Jorst hüstelte und versuchte es wiederum mit einem leisen Lachen. »In der Frage, was von einem möglichen Präsidenten Clyde Ritter zu halten sei, stimmten Arnolds und meine Einschätzung vollkommen überein. Worin wir uns allerdings erheblich unterschieden, das war die Frage, wie man auf Ritters Kandidatur reagieren sollte.«
»Ramsey hat also mit seinen Gefühlen nicht hinter dem Berg gehalten?«
»Überhaupt nicht.« Jorst stippte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. »Ich erinnere mich noch, wie er durch mein Büro stakste, sich mit der Faust in die Handfläche schlug und über das Bewusstsein einer Bevölkerung herzog, die drauf und dran war, einem Mann wie Ritter politischen Einfluss auf nationaler Ebene einzuräumen.«
»Aber er musste doch wissen, dass Ritter keine Chance hatte, Präsident zu werden.«
»Darum ging es nicht. Wichtiger, wenngleich viel weniger offensichtlich, waren die Kungeleien hinter der Szene. Ritter hatte in den Meinungsumfragen eine kritische Masse an Zustimmung erreicht. Das machte sowohl die Republikaner als auch die Demokraten allmählich sehr nervös. Nach den Umfragewerten konnte er problemlos die staatliche Wahlkampfkostenerstattung in Anspruch nehmen und war auch für landesweit ausgestrahlte Fernsehdebatten qualifiziert. Und was immer man sonst von Ritter halten mochte – reden konnte er. Er war aalglatt und kam bei einem gewissen Wählerpotenzial sehr gut an. Dazu kam, dass er, von seinem eigenen Präsidentschaftswahlkampf abgesehen, noch eine unabhängige Parteienkoalition zusammengeschustert hatte, die in vielen größeren Bundesstaaten eine Reihe von Kandidaten aufstellte. Es ging um die verschiedensten Ämter, und es sah so aus, als könnten viele Kandidaten der großen Parteien ernsthafte Probleme bekommen.«
»Inwiefern?«, fragte King.
»Bei vielen Wahlen im ganzen Land hat seine Liste die traditionelle Stammwählerschaft der großen Parteien gespalten. Damit war seine Truppe in etwa dreißig Prozent der in Frage kommenden Sitze das Zünglein an der Waage. Und wenn jemand plötzlich mit solchen politischen Pfunden wuchern kann, nun, dann…«
»Dann kann er sich teuer verkaufen?«, schlug King vor.
Jorst nickte. »Wie teuer sich Ritter schließlich verkauft hätte, kann natürlich niemand sagen, denn mit seinem Tod war der Partei bekanntlich jeder Wind aus den Segeln genommen. Da sind die großen Parteien gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Arnold war, so sehe ich das, fest davon überzeugt, dass Ritter, wenn niemand ihm Einhalt gebot, letzten Endes alles zerstören würde, wofür Amerika steht.«
»Und dabei wollte er nicht tatenlos zusehen«, sagte King.
»Offenbar nicht – schließlich hat er den Mann ja erschossen«, erwiderte Jorst trocken.
»Hat er jemals davon gesprochen, dass er so etwas vorhatte?«
»Nein. Das habe ich den Ermittlern damals schon gesagt. Sicher, er kam hier rein und schimpfte und schäumte über Ritter, aber er hat bestimmt niemals eine Drohung oder so was ausgestoßen. Er hat lediglich von seiner verfassungsmäßig garantierten Redefreiheit Gebrauch gemacht. Arnold hatte ein Recht auf seine eigene Meinung.«
»Aber kein Recht, deswegen zu morden.«
»Ich wusste nicht einmal, dass er eine Waffe besaß.«
»War er noch mit anderen Professoren hier am College befreundet?«, fragte Michelle.
»Nein, eigentlich nicht. Vor Arnold hatten viele hier einen Heidenrespekt. Lehranstalten wie Atticus verfügen gewöhnlich nicht über solche akademischen Schwergewichte.«
»Hatte er Freunde außerhalb der Uni?«
»Keine, von denen ich wüsste.«
»Und unter seinen
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