Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
seiner Anatomie, als King oder Joan sehen wollten. Als er den Ball endlich losließ, flog der langsam und präzise auf Morses Kopf zu, doch Sekundenbruchteile vor dem scheinbar unvermeidbaren Aufprall schoss Morses rechte Hand hoch und fing ihn auf. Gleich darauf sank die Hand wieder herab, hielt den Ball aber nach wie vor fest. Buddy hüpfte im Kreis herum und machte dann eine Verbeugung. »Das Spiel«, sagte er.
Er ging zu Morse und versuchte, ihm den Ball abzunehmen, doch dessen Finger gaben ihn nicht frei. Buddy, ein Bild des Jammers, wandte sich den Besuchern zu. »Nie gibt er ihn zurück! Er ist gemein! Gemein, gemein, gemein!«
Carls Kopf erschien in der Tür. »Alles klar hier? Oh, hallo, Buddy.«
»Er will mir den Ball nicht wiedergeben«, winselte Buddy.
»Schon gut, beruhige dich.« Carl schlenderte zu Morse, nahm ihm den Ball ab und gab ihn Buddy. Der drehte sich zu King um und hielt ihm den Ball entgegen. »Du bist dran!«
King sah Carl fragend an, der grinste und sagte: »Schon okay. Es ist bloß eine Reflexbewegung. Die Ärzte hier haben einen langen lateinischen Namen dafür. Es ist das Einzige, was Sid noch kann. Die anderen machen sich einen Mordsspaß draus.«
King zuckte mit den Schultern und warf Morse den Ball sachte zu, und wieder fing der Mann im Rollstuhl ihn auf.
»Kriegt Sid denn auch mal Besuch?«, fragte Joan Carl.
»Anfangs ist sein Bruder öfter gekommen, aber inzwischen war er schon ziemlich lange nicht mehr da. Ich glaube, Sid war mal ’ne ziemliche Berühmtheit, denn als er eingeliefert wurde, waren einige Reporter hier. Die blieben aber nicht lange, als sie sahen, in welchem Zustand er war. Und jetzt kommt niemand mehr. Er sitzt bloß noch in seinem Rollstuhl herum.«
»Und fängt den Ball«, ergänzte Joan.
»Genau.«
Als Joan und King gingen, lief Buddy ihnen hinterher. Er hielt ihnen den Tennisball entgegen. »Den könnt ihr haben, wenn ihr wollt. Ich habe noch ganz viele andere.«
King nahm den Ball. »Danke, Buddy.«
Buddy hielt sein Kaninchen hoch. »Buddy auch Danke sagen.«
»Danke, Buddy.«
Der Zwerg sah Joan an und hob das Kaninchen noch höher. »Buddy Kuss?«
King gab Joan einen sanften Rippenstoß. »Na los, er ist doch niedlich.«
»Was krieg ich denn dafür?«, flüsterte Joan ihm zu, beugte sich dann aber vor und gab Buddy, dem Kaninchen, mit gespitzten Lippen ein Küsschen auf die Plüschwange. Dann fragte sie Buddy, den Zwerg: »Du bist also mit Sidney befreundet? Mit Sid, meine ich?«
Buddy nickte so heftig, dass er mit dem Kinn gegen die Brust stieß.
»Er hat das Zimmer neben mir. Willst du ’s sehen?«
King sah Joan an. »Wenn wir schon mal hier sind…«
»Wer A sagt, muss auch B sagen«, erwiderte sie achselzuckend.
Buddy nahm Joan bei der Hand und führte sie den Gang hinunter. King und Joan hatten keine Ahnung, ob sie sich ohne Pfleger überhaupt hier aufhalten durften, doch niemand hielt sie an. Vor einem Zimmer blieb Buddy stehen und klatschte mit der Hand gegen die Tür. »Das ist mein Zimmer. Wollt ihr’s sehen? Is klasse!«
»Bestimmt«, sagte Joan. »Vielleicht hast du sogar noch ein paar Buddys drin.«
Buddy machte die Tür auf – und schloss sie sofort wieder. »Ich mag’s nicht, wenn fremde Leute meine Sachen angucken«, sagte er und starrte sie ängstlich an.
King stieß einen langen, schicksalsergebenen Seufzer aus. »Okay, Buddy, du wohnst hier – dein Haus, deine Regeln.«
»Ist das Sids Zimmer?« Joan deutete auf die Tür zur Linken.
»Nö, das da.« Buddy öffnete die Tür rechts neben seiner.
»Ist das auch okay, Buddy?«, fragte King. »Dürfen wir da reingehen?«
»Ist das auch okay, Buddy? Dürfen wir da reingehen?«, wiederholte Buddy und strahlte die beiden an.
Joan warf einen Blick in den Flur, sah aber niemanden, der sie hätte beobachten können. »Ich glaub schon, dass es okay ist, Buddy. Warum bleibst du nicht draußen und stehst Schmiere?« Sie schlüpfte ins Zimmer. King folgte ihr und schloss die Tür. Buddy blieb draußen im Flur; seine Miene verriet plötzlich panische Angst.
King und Joan besahen sich das spartanische Quartier. »Sidney Morses Sturz war tief und unwiderruflich«, bemerkte Joan.
»So ist es oft«, sagte King geistesabwesend, während er das Zimmer musterte. Der Uringestank war durchdringend. King fragte sich, wie oft hier wohl die Bettwäsche gewechselt wurde. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch, auf dem sich mehrere Fotografien befanden, alle ungerahmt. King nahm sie in
Weitere Kostenlose Bücher