Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
abzuwenden – einem Mann, der acht Jahre zuvor noch eine der größten Meisterleistungen der amerikanischen Politik vollbracht hatte. Morse hatte etwas abgenommen, war aber immer noch fett. Man hatte ihm den Kopf kahl rasiert, doch trug er einen kurzen, grau gesprenkelten Bart. King hatte einen rasiermesserscharfen Blick in Erinnerung, dem nichts entging. Jetzt waren die Augen leblos. Vor ihnen saß zweifellos Sidney Morse – oder besser gesagt: das, was von ihm übrig geblieben war, nicht viel mehr als seine Hülle.
»Und wie lautet die Diagnose?«, fragte er.
»Dass er nie wieder hier rauskommt«, sagte der Pfleger und stellte sich selbst als Carl vor. »Sein Verstand ist völlig hin, wie weggeblasen, der kommt nicht wieder. Also, Leute, ich bin da hinten am Ende des Gangs. Ihr braucht mich nur zu holen, wenn ihr fertig seid.« Carl entfernte sich.
Joan warf King einen Blick zu. »Ich kann es kaum fassen«, sagte sie. »Sicher, ich wusste, dass sein Ruf und seine Karriere nach dem Mord an Ritter schwer angeschlagen waren, aber dass er dermaßen auf den Hund kommt – nein, das hätte ich mir nicht vorstellen können.«
»Vielleicht kam es schubweise. In acht Jahren kann viel passieren, schau dir bloß mich an. Sidney war nach dem Debakel mit Ritter völlig erledigt. Kein Mensch wollte ihn mehr. Er wurde depressiv. Und vielleicht hat ihn sein kleiner Bruder, als sie dann unter einem Dach lebten, gerade in der kritischsten Phase an schwere Drogen gebracht. Ich kann mich erinnern, dass Sidney mir damals im Wahlkampf einmal erzählte, der Drogenkonsum seines Bruders habe ihm schon eine Menge Unannehmlichkeiten eingetragen. Er meinte, Peter sei sehr erfinderisch bei der Geldbeschaffung für seine Sucht. Ein ausgesprochen gewieftes Früchtchen.«
King kniete vor Morse nieder. »Sidney? Sidney, erinnern Sie sich an mich? Ich bin Sean King. Agent Sean King«, fügte er hinzu.
Es kam keine Reaktion. Ein Speichelfaden rann aus dem Mund des Mannes und blieb an seiner Unterlippe hängen. King warf Joan einen Blick zu. »Sein Vater war ein bekannter Anwalt«, sagte er, »und seine Mutter so was wie eine reiche Erbin. Ich frage mich, was aus all dem Geld geworden ist.«
»Vielleicht geht’s für die Betreuung hier drauf.«
»Nein, die Klinik ist staatlich, keine teure Privateinrichtung.«
»Vielleicht hat ja sein Bruder die Finger drauf. Es ist ja anzunehmen, dass sie beide geerbt haben, und jetzt besitzt Peter alles. Abgesehen davon – wer interessiert sich für die Brüder Morse? Ich bin hier, weil ich John Bruno finden will.«
King wandte sich wieder Morse zu. Der Mann im Rollstuhl hatte sich nicht gerührt. »Mein Gott, schau dir diese Schnittnarben in seinem Gesicht an.«
»Selbstverstümmelung. Manche Geistesgestörte neigen dazu.«
King stand kopfschüttelnd auf.
»Hey, habt ihr das Spiel mit ihm gespielt?«, fragte eine aufgeregte Fistelstimme.
Sie drehten sich um. Hinter ihnen stand ein zwergenhafter, magerer Mann, der ein verschlissenes Plüschkaninchen in den Armen hielt. Er war so klein, dass er wie ein Kobold wirkte. Außer einem schlabberigen Bademantel schien er nichts am Leib zu tragen. Joan wandte den Blick ab.
»Das Spiel«, sagte das Männlein und sah sie mit einer Kindermiene an. »Habt ihr’s schon gespielt?«
»Was denn, mit ihm?«, fragte King und deutete auf Morse.
»Ich bin Buddy«, sagte der Mann, »und das hier ist auch Buddy.« Er hielt das zerlumpte Kaninchen in die Höhe.
»Freut mich, dich kennen zu lernen, Buddy«, sagte King. Sein Blick richtete sich auf das Plüschtier. »Und dich auch, Buddy. Ihr kennt also Sid?«
Buddy nickte heftig. »Spielen, das Spiel!«
»Das Spiel, richtig. Warum zeigst du mir nicht, wie’s geht? Kannst du das?«
Wieder nickte Buddy und grinste. Dann lief er in eine Ecke des Zimmers, wo eine Schachtel mit allerhand Krimskrams stand. Er wühlte darin herum, suchte und fand einen Tennisball und kam damit zurück. Dann pflanzte er sich ein gutes Stück vor Morse auf und hielt den Ball hoch. »Okay, ich werfe den…«
Buddys Blick schien plötzlich jedes Ziel zu verlieren. Mit aufgerissenem Mund und ausdruckslosen Augen, den Ball und sein Kaninchen festhaltend, stand er da.
»Den Ball«, half King ihm weiter. »Du wirfst den Ball , Buddy.«
Buddy kam wieder zu sich. »Okay, ich werfe den Ball.« Er machte eine regelrechte Show daraus, schraubte sich in die Höhe wie ein Spitzenspieler der Basketballliga und entblößte dabei wesentlich mehr von
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