Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Autos anzukämpfen, passte er sich ihr an, drehte das Lenkrad so, wie der Wagen schleuderte, und kämpfte das instinktive Verlangen nieder, auf die Bremse zu steigen. Am meisten sorgte er sich, das Auto könnte sich überschlagen, was mit Sicherheit Michelles Tod bedeuten würde – und seinen wahrscheinlich auch. King wusste nicht, wie viele Drehungen der Wagen vollführte, doch dank seines tiefen Schwerpunkts blieb der Lexus auf der Straße, wobei er einen Großteil des Reifenprofils verschliss und an der Fahrzeugunterseite etliche Metallteile verlor. Endlich kam der Wagen in der ursprünglichen Fahrtrichtung zum Stehen. Der schwarze SUV war ein Stück voraus und entfernte sich in zügigem Tempo. Es hatte den Anschein, als gäbe der Fahrer sein Vorhaben auf.
Michelle feuerte. Die Kugeln trafen und ließen die Hinterreifen des SUV platzen. Das Fahrzeug kam ins Schleudern, machte eine komplette Drehung und überschlug sich. Dreimal krachte der Wagen auf den harten Untergrund und blieb dann ein gutes Stück voraus am rechten Straßenrand auf dem zerbeulten Dach liegen. Auf seinem turbulenten Fahrtweg hatte der SUV vielfältiges Strandgut aus Blech, Glas und Gummi hinterlassen.
King lenkte sein schrottreifes Auto so schnell zu dem SUV, wie der Wagen es zuließ, während Michelle wieder neben ihn auf den Beifahrersitz rutschte.
»Sean?«
»Was ist?«
»Du kannst mein Bein loslassen.«
»Was? Ach ja.« Er löste den Griff um ihr Fußgelenk. Michelle drückte seine Hand, sah ihn an und atmete auf. »Das war eine verdammt gute fahrerische Leistung, Agent King«, sagte sie mit ehrlicher Dankbarkeit.
»Und ich hoffe aufrichtig, das letzte Mal so gefordert worden zu sein.«
Sie stoppten neben dem Wrack des SUV und stiegen aus. Michelle hielt die Waffe schussbereit, als sie sich dem Wagen näherten. Mit einiger Mühe gelang es King, die Fahrertür aufzuzerren.
Der Oberkörper des Fahrers schwang ihnen entgegen.
Fast hätte Michelle gefeuert; dann entspannte sich ihr Finger am Abzug.
Der Mann baumelte kopfüber im Sicherheitsgurt. Sein blutiger Schädel war dermaßen entstellt, dass King es sich sparte, nach dem Puls zu fühlen.
»Mein Gott… wer ist das?«, fragte Michelle.
»Ich glaube«, sagte King, »das ist Roger Canney.«
KAPITEL 77
Um zehn Uhr morgens war im überbreiten Wohnwagen der Deavers niemand anzutreffen. Die Kinder waren in der Schule, und Lulu arbeitete im Club. Priscilla Oxley war zu einem Tante-Emma-Laden gefahren, um sich Zigaretten und den Sprudel zu besorgen, mit dem sie den geliebten Wodka hinunterspülte. Währenddessen parkte ein Lieferwagen hinter dem Hain am gepflasterten Zufahrtsweg, der auf den Platz mündete, auf dem der Wohnwagen stand. Der Mann im Lieferwagen hatte beobachtet, wie Priscilla weggefahren war, wobei sie das Auto mit den Knien steuerte, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen das Handy.
Kaum war sie verschwunden, stieg der Mann aus und durchquerte den Hain, bis er auf der Seite, wo der Wohnwagen stand, an den Rand der Lichtung gelangte. Luther, der alte Hund, kam aus seiner Hütte hinter dem Wohnwagen geschlichen, hob den Kopf in die Richtung des Mannes, als er dessen Geruch schnupperte, gab ein müdes Bellen von sich und trat den Rückzug in die Hütte an. Einen Moment später huschte der Mann, nachdem er das Türschloss aufgestochert hatte, ins Innere des Wohnwagens und suchte rasch das am einen Ende gelegene Schlafbüro auf.
Junior Deaver war nie ein begabter Geschäftsmann gewesen und hatte noch weniger von Aktenführung verstanden. Zum Glück hatte seine verstorbene Frau sich auf beiden Gebieten als tüchtig erwiesen. Juniors Baukunden-Verzeichnis war gut geordnet und leicht durchzusehen. Während der Mann mit einem Ohr horchte, um nicht durch irgendjemanden überrascht zu werden, sichtete er die Unterlagen, deren chronologische Anordnung ihm sehr gelegen kam. Nach kurzer Zeit hatte er anhand der Papiere eine ziemlich lange Liste aufgestellt.
Einer dieser Leute musste es sein.
Der Mann faltete die Liste zusammen, steckte sie in die Tasche und ließ die Unterlagen genauso zurück, wie er sie vorgefunden hatte. Dann entfernte er sich auf dem Weg, den er gekommen war. Gerade als er den Lieferwagen erreichte, sah er Priscilla Oxley mit den Zigaretten und dem Sprudel zum Wohnwagen fahren. Die Frau konnte von Glück reden. Fünf Minuten früher, und sie wäre jetzt tot.
Mit der kostbaren Liste in der Tasche fuhr der Mann los. Er dachte über den Einbruch
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