Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
dem Wasser war der Weg gar nicht so weit. Mit dem Auto brauchte man länger; deshalb hatte er ja das Boot genommen. Außerdem waren auf den Straßen ganze Kolonnen von Streifenwagen unterwegs. Auf dem See dagegen gab es nur ein Polizeiboot, das ausschließlich am Wochenende zum Einsatz kam, wenn der meiste Freizeitbetrieb herrschte. In dieser Nacht kam ihm bestimmt keiner in die Quere.
Eddie stand am Steuerrad, ließ sich den Wind ins Gesicht peitschen und in seinen Haaren zerren. Der Wind schwoll an; die Wellen wurden höher. Gischt krönte die dunklen Wogen, doch das FasTech teilte unbeeindruckt die Fluten. Eddie blickte zum unheilvoll düsteren Himmel hinauf. Er hatte sich immer gern im Freien aufgehalten: Reiten, Soldat spielen, unter dem weiten Himmel kampieren, atemberaubende Sonnenuntergänge malen, Jagen, Fischen, Einsichten gewinnen, wie eines mit dem anderen harmonierte, wie sich eines vom anderen ernährte…
Nun aber bewegte sich alles dem Ende entgegen. Heute unternahm er seine letzte Spritztour. Es überraschte ihn, wie schnell der Schlusspunkt heranrückte. Er war gesund und kräftig; dennoch endete sein Leben mit knapp vierzig Jahren. Doch wenn es vorbei war, hatte er alles verwirklicht, was ihm etwas bedeutete. Wie viele Menschen konnten das von sich behaupten? Er hatte sein Leben zu seinen eigenen Bedingungen geführt, nicht nach denen seines Vaters, den Wünschen seiner Mutter oder dem Willen irgendeines anderen.
Das war die Lüge, die Eddie sich jeden Tag selbst auftischte.
Er stieß den Gashebel ganz nach vorn. Die Motoren brüllten auf, und das Boot beschleunigte auf über siebzig Seemeilen. Die Hügel, die den von Menschen geschaffenen See säumten, schienen nur so vorüberzusausen, und die Bäume, die auf den Anhöhen wuchsen, waren stumme Zeugen für Eddies letztes Hurra. Angriff von Eddie Lee Battle und seiner getreuen Brigade. Großer Gott, er war ganz und gar in seinem Element!
»Und von neuem in die Bresche geworfen!«, rief er in den finsteren, vom Flackern der Blitze durchzuckten Himmel, als der Regen einsetzte, und leckte sich die Tropfen vom Gesicht. »Die größte Tugend eines Mannes ist der Mut des Einen gegen alle!«, rief er die schwülstigen Worte eines Dichters der Bürgerkriegszeit, der wahrscheinlich nie eine Muskete geschultert hatte. »Wenn die Welt am dunkelsten ist, erscheint uns Licht, und sei es nur aus dem Pulsschlag eines lebendigen Herzens!« Wie auf ein Stichwort krachten Donnerschläge, und als das Gewitter seine ganze Kraft entfaltete, gleißte ein Milliarden Watt heller Blitz.
Das Heulen der Mercury-Motoren wetteiferte mit dem Tosen des Unwetters. Das dahinjagende Boot erzeugte eine riesige Bugwelle, doch die Fahrt blieb gleichmäßig, sicher und ruhig – ruhiger als Eddie selbst. Fast drei Viertel des elf Meter langen Rumpfes jagten über dem Wasser dahin, durchschnitten die fast meterhohen Wogen. Das Schnellboot erschien Eddie wie ein gewaltiges Projektil. Niemand konnte ihn einholen.
Niemand!
KAPITEL 94
Im Casa Battle stapfte Michelle in ihrem Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Tier, das verzweifelt nach einer Lücke sucht, um in die Freiheit zu entfliehen. King war zum Abendessen bei Sylvia. Michelle war nicht eingeladen worden. Aber sollte sie das wundern?
Schließlich verließ sie das Zimmer, eilte die Haupttreppe hinunter, indem sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, und betrat den Salon. Sie hatte Remmy den ganzen Tag nicht gesehen. Und Dorothea schlief wahrscheinlich, wie so oft in letzter Zeit. Wer hätte es ihr verübeln können? Sie war finanziell ruiniert, hatte ein Drogenproblem, man verdächtigte sie noch immer, Kyle Montgomery ermordet zu haben, und ihr Ehemann hatte sich als irrer Serienmörder erwiesen, der sich auf der Flucht befand.
Michelle blieb stehen, als sie Savannah über den Flur gehen sah. Die junge Frau kleidete sich nicht mehr nach dem Vorbild ihrer Mutter; vielleicht schwand Remmys bislang so unantastbare Autorität. Stattdessen trug Savannah eine tief sitzende Jeans, die den oberen Rand ihres schwarzen Tangas frei ließ, und ein kurzes Top, aber keine Schuhe; die Zehennägel hatte sie in Bratapfelrot lackiert.
Als sie Michelle bemerkte, hob sie verdutzt den Blick, als wäre sie sich gar nicht bewusst, dass sie schon seit Tagen im selben Haus mit ihr wohnte.
»Wie geht’s?«, fragte Michelle.
Savannah zog ein missmutiges Gesicht. »Einfach toll. Vater tot, Schwägerin zerrüttet, Mutter fix und fertig, Bruder
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