Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Und Schrotschussverletzungen des Kopfes«, betonte sie und drückte auf einen Knopf an der Wand, worauf die Türflügel sich öffneten. Sylvia ging in den Raum dahinter und kehrte mit einer Rollbahre zurück, auf der eine Leiche lag. Nachdem sie die Bahre zu ihrem Arbeitsplatz gerollt hatte, schaltete sie die große Lampe an der Decke ein.
Clancy hüstelte und legte eine Hand auf seinen Mundschutz. Sylvia erteilte ihm die übliche Lektion über die Gewöhnung des Geruchssinns. Er zog widerstrebend die Hand zurück, doch seine Beine schienen plötzlich einen Teil ihrer Standfestigkeit verloren zu haben. Sylvia schob einen Stuhl zu ihm hinüber. Michelle sah es, Clancy nicht. Die beiden Frauen verständigten sich durch einen stummen Blick.
»Das ist Steve Canney.« Als sie die Leiche enthüllte, reagierte Michelle blitzschnell und schob den Stuhl rechtzeitig hinter den Deputy, um ihn auffangen zu können, als er zusammenklappte.
Sie rollten ihn mit dem Stuhl in eine Ecke des Raumes, wo Sylvia eine Ammoniakampulle öffnete und ihm unter die Nase hielt. Clancy wachte auf, fuhr erschrocken hoch und schüttelte benommen den Kopf.
»Wenn Sie sich nicht gut fühlen – gleich nebenan ist ein Raum, in dem Sie sich ausruhen können«, sagte Sylvia.
Der Deputy errötete. »Tut mir Leid, Doc. Ich weiß nicht, wieso…«
»Es braucht Ihnen nicht Leid zu tun, Deputy. Es ist ein schrecklicher Anblick. Als ich das erste Mal so etwas gesehen habe, bin ich auch aus den Latschen gekippt.«
Er sah sie verblüfft an. »Wirklich?«
»Wirklich«, versicherte sie ihm. »Wenn Sie gehen möchten, gehen Sie einfach. Wenn Sie später wieder dazukommen möchten, sobald Sie sich erholt haben, auch gut. Und wenn Sie einfach hier sitzen bleiben möchten, geht das auch in Ordnung.«
Clancy entschied sich für Letzteres. Doch sobald die Frauen sich von ihm abgewandt hatten, schlug er die Hände vors Gesicht und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
Sylvia und Michelle kehrten zu Steve Canneys Leiche zurück.
»Sind Sie beim ersten Mal wirklich ohnmächtig geworden?«, fragte Michelle leise.
»Natürlich nicht. Aber es tut ihm gut, dass ich es gesagt habe. Bis jetzt hat noch jeder Kerl schlappgemacht. Je größer und stärker sie waren, desto schneller.«
Sylvia zeigte mit einem langen Stahlstab auf verschiedene Stellen. »Wie Sie sehen, wurde der supratentorielle Bereich des Gehirns größtenteils zerstört, was bei einer Schrotschussverletzung nicht ungewöhnlich ist.«
Sie legte den Stab weg, und ihre Miene wurde ernst. »Steve Canneys Vater war hier, um den Jungen zu sehen. Ich hatte ihm davon abgeraten, weil die Verletzungen fürchterlich sind, aber er hat darauf bestanden. Das ist immer der schwierigste Teil dieser Arbeit. Jedenfalls, Canney konnte ihn auf Indizienbasis identifizieren, aufgrund eines Muttermals und einer Narbe am Knie, die Steve von einer Verletzung beim Football zurückbehalten hatte. Anhand des Zahnstatus und der Fingerabdrücke konnten wir die Identifikation bestätigen.«
Sylvia atmete tief durch. »Ich hatte Mitleid mit ihm, aber er hat es ziemlich gefasst aufgenommen. Ich habe selbst keine Kinder, aber ich kann mir vorstellen, wie es sein muss, hierher zu kommen und…« Sie verstummte.
Michelle fragte leise: »Und was ist mit Steves Mutter?«
»Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. In gewisser Weise ein Segen, würde ich sagen.« Sylvia wandte sich wieder der Leiche zu. »Es ist nicht einfach, den Abstand zu bestimmen, aus dem eine Schrotflinte abgefeuert wurde. Am zuverlässigsten ist es, die gleiche Munition aus genau derselben Waffe mit identischem Choke abzufeuern. Diesen Luxus können wir uns hier nicht erlauben, aber Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass die Eintrittswunde keine Bogenränder aufweist und dass es keine sekundären Verletzungen gibt. Also dürfte der Abstand zwischen Mündung und Opfer höchstens fünfzig Zentimeter betragen haben.« Sie bedeckte das, was von Steve Canneys Kopf übrig war, mit einem kleinen Tuch.
»Ich habe den Pfropfen der Schrotpatrone in der Wunde gefunden. Alle Schrotkugeln steckten noch im Kopf. Deshalb war die Verletzung so schwer. Die gesamte kinetische Energie hat sich im Gewebe verteilt.«
»Und Janice Pembroke starb auf die gleiche Weise?«
»Durch einen Schuss in den Rücken. Die Verletzungen waren sofort tödlich, aber nicht so verheerend. In ihrem Gewebe steckten außer den Schotkugeln noch Splitter der zerborstenen Windschutzscheibe.
Weitere Kostenlose Bücher