Sean King 03 - Im Takt des Todes

unabhängig.«
    »Das habe ich bereits diagnostiziert«, sagte Horatio. »Sie lieben Ihre Eltern sehr, ja?«
    »Ich würde alles für sie tun.«
    Horatio schaute ob dieser Bemerkung ein wenig seltsam drein. »Würden Sie mir erlauben, dass ich mit Ihren Eltern über Sie spreche?«
    »Nicht mit meinen Eltern, nein!«
    »Wie steht’s mit einem Ihrer Brüder?«
    »Sie können mit Bill reden, dem ältesten. Er ist Streifenpolizist in Florida.«
    »Wie Ihr wünscht, Mylady.«
    »Ich wünschte, ich wäre nicht hier«, platzte Michelle heraus.
    »Sie können jederzeit gehen. Das wissen Sie doch, oder?«
    »Ja, sicher.«
    »Sie können sogar sofort gehen. Stehen Sie einfach auf, und gehen Sie raus, wenn Sie wollen. Führen Sie Ihr unabhängiges Leben weiter. Niemand hält Sie auf. Da ist die Tür.«
    Es folgte ein langer Moment des Schweigens; dann sagte Michelle: »Ich glaube, ich bleibe erst einmal.«
    »Das ist eine sehr gute Entscheidung, Michelle.«
    Nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, folgte Michelle dem Psychiater hinaus. Als sie in der Tür standen, kam Barry vorbei, schaute sie aber nicht an.
    Michelle fragte: »Was wissen Sie über diesen Kerl?«
    »Nicht viel. Warum?«
    »Ich bin nur neugierig.«
    »Hm … Warum glaube ich Ihnen nicht?«
    »Zweifeln Sie an meinen Worten, Horatio?«
    »Ich habe da eher an einen dummen Spruch gedacht: ›Lügen haben schöne Beine.‹«

11.
    D ie Beale-Halbinsel ist ein keilförmiges Stück Land, das in den New York River ragt. Sie liegt in Gloucester County auf halbem Weg zwischen Clay Bank und Wicomico in Virginias malerischer Marschlandschaft. Wie viele Landstriche Virginias war auch Beale schon früh in der Kolonialzeit besiedelt worden und voller ruhmreicher Denkmäler jenes Landes, das mehr als ein Jahrhundert später zu den Vereinigten Staaten werden sollte. Weniger als zehn Meilen südlich, in Yorktown, hatte der britische General Cornwallis im Jahre 1781 sein Schwert, sich selbst und Tausende gedemütigter Rotröcke an den zusammengewürfelten Haufen von George Washingtons Kontinentalarmee übergeben. Damit war der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg für die Yankees mit einem Knall zu Ende gegangen – für eine Armee, die bis zu diesem Zeitpunkt kaum ein Gefecht gesehen hatte, das sie nicht irgendwie verloren hätte.
    Aus den Feldern dieser frühen Tage waren dann die großen Plantagen mit ihren riesigen Gutshäusern emporgewachsen, die nur von Legionen schwarzer Sklaven bewirtschaftet werden konnten. Weniger als ein Jahrhundert später beendeten der Bürgerkrieg und der ausgelaugte Boden dieses verschlafene Zeitalter der Südstaatenaristokratie für immer.
    Eine zweite Welle des Wohlstands kam, als die finanzkräftigen Magnaten des beginnenden Industriezeitalters in diesem ruhigen Landstrich am York Einzug hielten, angelockt vom sauberen Wasser, den ergiebigen Fischgründen, dem sanften Klima und der ländlichen Idylle. Außerdem galt diese Gegend als gesund bei Schwindsucht, denn hier gab es keine großen Höhenlagen, vom Meer wehte ständig ein frischer Wind, und die langblättrigen gelben Pinien galten als heilsam bei tuberkulösen Lungen. Nachdem die ersten dieser altehrwürdigen Familien hier ihre teuren Wurzeln geschlagen hatten, kamen rasch weitere hinzu.
    Aus diesem Grund führten zur Blütezeit Beales sieben private Eisenbahnlinien von Norden und drei weitere von Westen auf diese teigige Faust von Virginia mit ihren angenehmen Winden.
    Heute, viele Jahre später, waren ein paar dieser Paläste in Pensionen oder kleine Hotels umgewandelt worden. Der größte Teil allerdings war verfallen, genau wie die Südstaatenplantagen vor ihnen – Abenteuerspielplätze für Kinder in den langen, feuchten Tagen des Marschlandsommers.
    Gleich auf der anderen Seite des Flusses lag York County, wo die Regierung der Vereinigten Staaten mit Camp Peary, einem Marineversorgungsstützpunkt sowie einem Waffenlager einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte: Gemeinsam nahm dieses Triumvirat das gesamte Ufer von Yorktown bis nach Lightfoot, Virginia ein. Es hieß, dass die Leute in Camp Peary – ein ultrageheimes Ausbildungszentrum für CIA -Agenten mit dem Spitznamen »Die Farm« – über Technologien verfügten, mit der sie nachts die Augenfarbe eines Menschen über den Fluss hinweg erkennen könnten. Auch waren die Einheimischen fest davon überzeugt, dass man jeden, der bis auf vier Meilen an das Camp herangekommen war, aus dem Weltraum beobachtet hatte. Natürlich