Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
Junge, und vermutlich wurde auch ein guter Mann aus ihm. Er würde ein Leben führen, das ihn weit weg von diesem Ort brachte. Das war gut. Er gehörte nicht hierher ... im Gegensatz zu Quarry.
Jeder Mensch musste sich seinen Weg selbst wählen. Gabriel hatte diese Entscheidung noch zu treffen. Quarry hatte es bereits getan. Für ihn gab es keine Ausfahrt mehr. Er schoss mit einer Million Meilen in der Stunde auf den Abgrund zu.
Als Quarry wieder nach oben ging, um sich schlafen zu legen, schaute er auf die Uhr. Carlos würde den Brief in ein paar Stunden aufgeben. Nach ein, zwei, höchstens drei Tagen müsste der Brief sein Ziel erreicht haben. Das hatte Quarry bei seinen Instruktionen berücksichtigt.
Dann würde es geschehen. Dann würde er sprechen können. Und sie würden zuhören. Da war er sicher. Er würde es ihnen klarmachen, und dann lag die Entscheidung bei ihnen. Aber die Menschen waren bisweilen seltsam. Manchmal waren sie einfach nicht zu durchschauen.
Als Quarry sein Schlafzimmer erreichte, wurde ihm bewusst, dass er selbst ein Musterbeispiel dafür war.
Er schaltete das Licht nicht an. Er trat einfach die Stiefel von den Füßen, öffnete seine Hose und ließ sie zu Boden fallen. Dann ging er zur Couch und nahm sich seine Flasche Schmerzmittel. Er legte sich hin, stellte die Flasche beiseite und träumte von besseren Zeiten.
Das war alles, was ihm geblieben war: ein Traum.
65.
M ichelle und Sean schauten zu, wie Frank Maxwell die Blumen auf das frische Grab seiner Frau legte, den Kopf senkte und ein paar Worte murmelte. Dann stand er da und starrte in eine unbestimmte Ferne.
Sean flüsterte Michelle zu: »Meinst du, er kommt wieder in Ordnung?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob ich selbst wieder in Ordnung komme.«
»Wie geht es deinem Arm und dem Bein?«
»Gut. Aber das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß«, erwiderte Sean.
Michelle drehte sich zu ihm um. »Hast du auch diese Art von Familienproblemen?«
»Jede Familie hat Probleme. Warum?«
»Nur so.«
Sie schwiegen, als Frank auf sie zukam.
Michelle legte ihm die Hand auf den Arm. »Alles okay?«
Er zuckte mit den Schultern, nickte dann aber. Als sie zu Michelles Wagen gingen, sagte er: »Ich hätte Sally nicht allein lassen und ermitteln sollen. Ich hätte bei ihr bleiben müssen.«
»Hätten Sie das getan, hätten wir Rothwell und Reagan vielleicht nie erwischt«, sagte Sean.
Zurück im Haus, kochte Michelle Kaffee, während Sean ein paar Sandwiches zu Mittag machte. Beide hoben den Blick, als eine Stimme aus dem kleinen Fernseher in der Küche kam.
Einen Augenblick später sahen sie Willas Bild auf dem Gerät. Etwas Neues verriet ihnen der Bericht jedoch nicht. Es war das Übliche: Das FBI ermittelte weiter; das Präsidentenpaar machte sich große Sorgen, und das ganze Land fragte sich, wo das kleine Mädchen steckte. Das wussten sie alles. Doch allein der Anblick Willas reichte aus, um sie beide wieder unter Strom zu setzen.
Sean ging nach draußen, um ein paar Anrufe zu erledigen. Als er zurückkam, blickte Michelle ihn fragend an.
»Ich habe bei der First Lady und Chuck Waters nachgehört.«
»Und? Gibt es etwas Neues?«
»Nichts. Ach ja, meinem Zwei-Sterne-Freund habe ich eine Nachricht auf Band gesprochen.«
»Hat Waters schon irgendwelche Fortschritte in Sachen Coushatta gemacht?«
»Sie haben Leute an diesen Ort in Louisiana geschickt. Bis jetzt ohne Ergebnis.«
Sie schwiegen. Nun, da der Mord an Sally Maxwell aufgeklärt war, war klar, dass sie alles auf Willa konzentrieren mussten. Sie mussten das Mädchen finden. Lebend. Aber erst einmal brauchten sie einen Durchbruch.
Als sie später in der Küche saßen und aßen, wischte Frank sich mit der Serviette über den Mund und räusperte sich.
»Ich war überrascht, dass du wieder dahin zurückgegangen bist«, sagte er.
»Wohin zurück?«
»Du weißt schon.«
»Und ich war ziemlich überrascht, dich da zu sehen.«
»Wir waren nie glücklich dort, deine Mutter und ich.«
»Offensichtlich nicht.«
»Erinnerst du dich noch an diese Zeit?«, fragte Frank vorsichtig. »Du warst noch sehr klein, kaum mehr als ein Säugling.«
»Ich war kein Säugling mehr, Dad. Ich war sechs. Aber nein, ich erinnere mich nicht an viel.«
»Aber du hast dich noch daran erinnert, wie man dorthin kommt.«
Michelle log: »Heutzutage nennt man das ›Navi‹.«
Sean spielte an einer Kartoffelscheibe auf seinem Teller herum und versuchte, überall hinzuschauen,
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