Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
Sie fühlte die Angst der beiden und wünschte sich, sie könnte ihnen mehr sagen als nur, dass sie für Willa hoffe und bete. Danach rief sie bei ihrem Bruder an, der noch immer zur Beobachtung im Krankenhaus lag; allerdings hofften die Ärzte, er könne bald entlassen werden. Die beiden Kinder hatten ihn besucht.
Jane ließ sich von den Angestellten das Abendessen bringen und aß allein. Sie hatte mehrere Einladungen zum Essen für diesen Abend bekommen, aber alle abgelehnt. Die meisten dieser Einladungen stammten von Leuten, die nur ihren eigenen Status aufbessern wollten, indem sie mit der First Lady das Brot brachen. Außerdem ließen sich mit einem gemeinsamen Foto später ganz hervorragend die Enkel langweilen. Jane wollte lieber allein sein ... na ja, so allein, wie es in einem Haus mit mehr als neunzig Angestellten und ungezählten Sicherheitsbeamten möglich war.
Jane beschloss, einen Spaziergang zu machen, natürlich begleitet von Beratern und Männern des Secret Service. Für eine Weile setzte sie sich in den Children's Garden, ein schattiges Fleckchen, entworfen von Lady Bird Johnson. Jane liebte es, sich die in Bronze gegossenen Hand- und Fußabdrücke von Präsidentenenkeln anzusehen, die den Fußweg bildeten. Sie hoffte, ihre Kinder würden ihr und Dan einst auch ein paar Enkel schenken.
Später ging sie an den Tulpenbeeten im Rose Garden vorbei, wo im Frühling Tausende von Pflanzen blühten und den Boden in sämtlichen Farben leuchten ließen. Als Nächstes machte sie sich auf den Weg zum Solarium, das auf Anregung von Grace Coolidge in einer Dachkammer eingebaut worden war. Es war der am wenigsten formelle Raum im ganzen Haus; außerdem hatte man von dort die beste Aussicht - jedenfalls Janes Meinung nach. Die First Ladys waren stets an vorderster Front gewesen, wenn es darum ging, das Weiße Haus für zukünftige Präsidenten und ihre Familien zu verbessern und ihre eigene Handschrift zu hinterlassen. Auch Jane hatte in den letzten drei Jahren in dieser Hinsicht einiges getan, doch es war nichts im Vergleich zu dem, was auf Jackie Kennedy zurückzuführen war.
Jane kehrte wieder in die Präsidentenwohnung zurück und erinnerte sich an ihren ersten Tag hier, vor drei Jahren. Die alte First Family war um zehn Uhr morgens ausgezogen, und die Cox waren um vier Uhr nachmittags gekommen. Es war wie eine ganz normale Wohnungsübergabe gewesen ... fast. Als sie zur Tür hereingekommen waren, hingen ihre Kleider bereits im Schrank und die Bilder an der Wand. Ihre Lieblingssnacks lagen im Kühlschrank, und im Badezimmer standen ihre persönlichen Toilettenartikel. Jane wusste noch immer nicht, wie die Angestellten das in nur sechs Stunden geschafft hatten.
Später nippte Jane an ihrem Kaffee und dachte über ihre Diskussion mit Sean King nach. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Er war ihr immer ein Freund gewesen, und er hatte die politische Karriere ihres Mannes gerettet. Sie wusste, dass King im Augenblick sauer auf sie war, aber das würde vorbeigehen. Sie selbst ärgerte sich mehr über ihren Bruder. Fast ihr Leben lang hatte sie sich um ihn gekümmert, vor allem, weil ihre Mutter gestorben war, als Jane elf Jahre alt gewesen war; Tuck war fünf Jahre jünger. Manche würden sagen, sie hatte ihn verhätschelt. Jetzt musste Jane sich der Tatsache stellen, dass ihr Beschützerinstinkt mehr geschadet als genutzt hatte. Dennoch konnte sie ihm nicht einfach den Rücken zukehren.
Jane ging wieder zum Fenster und beobachtete die Passanten vor dem Weißen Haus. Ihrem Haus. Wenigstens für die nächsten vier Jahre, wenn man den Umfragen Glauben schenkte. Doch die endgültige Entscheidung darüber trafen einhundertdreißig Millionen Amerikaner.
Als Jane die Wange an das kugelsichere Glas drückte, richteten sich all ihre Gedanken auf Willa. Das Kind war irgendwo da draußen mit Leuten, die seine Mutter ermordet hatten. Und diese Leute wollten irgendetwas, doch Jane wusste nicht was.
Jane Cox bereitete sich innerlich bereits auf die Möglichkeit vor, dass Willa vielleicht nie wieder in ihr Leben zurückkehren würde, dass sie vielleicht längst tot war. Jane hatte sich antrainiert, ihre Gefühle nie zu zeigen, jedenfalls nicht öffentlich, es sei denn, die politischen Umstände verlangten es. Aber sie war nicht kalt. Nur hatte eine übermäßige Zurschaustellung von Wut, Frivolität oder auch zu auffälliges Heucheln von Ernst schon so manche politische Karriere vor die Wand gefahren. Niemand wollte, dass
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